21.3.2019 – hier
hierverkrochen
Es ist das Vergänglichste, was mir die größte Freude macht: ein Geschmack auf der Zunge, ein Geruch in der Nase, ein Wind über der Haut. Bilder auf der Netzhaut. In meinen Augen.
Ein Wort ist genug, sich daran zu halten. Mein Wort. Heute heißt es: Sonntag.
Langsam tun. Bei der Sache sein. Das Glück fühlen, etwas tun zu können. Freude, wenn von einem Tag etwas für den nächsten übrigbleibt.
Es muss etwas gefallen sein.
Es war ein Blatt.Wie weh die Anfänge tun.
Jeder neue Anfang ist ein neuer Abschied von ihr. Der Beginn eines Lebens ohne sie. Bei jedem ersten Schritt möchte ich weinen, immer nur weinen.
Auch eine gute Nachricht tut weh. Mir ist eher nach Weinen als nach Freude. Eine leise Traurigkeit. Sie ist nimmer da, es ihr zu sagen.Ihre nächtlichen Berührungen. Ratlosigkeit beim Erwachen. Wo sie suchen. Wo sie finden. Eben war sie noch da.
Aus dem Dunkel kommt sie auf mich zu in jeder Nacht. Warm und lebendig.
Sie sollte in unserer Zukunft sein. Unsere Tochter. Lebendig. Die Füße auf dem Boden. Nicht zerschellt.Ihre Strenge und ihre Schwäche. Was sie an Härte von mir nicht bekam, hat sie maßlos ersetzt, aufgefüllt bis zur Handlungsunfähigkeit. „Antriebsarmut“ hat man es genannt. Für uns war 68 keine gute Zeit. Ein Überbau für das, was wir nicht konnten. Grenzen setzen. Klarheit schaffen. Ich und du und wir.
Sie werden alleine groß, hat der Vater gesagt und mich ins Bett gezogen oder auf den Sessel, um zu reden, reden, reden.
Ich war dazwischen. Nicht ganz hier, nicht ganz da. Immer hat er schon gewartet. Und die Kinder hatten wenig Mutter und keinen Vater.
Enttäuschung. Ich habe sie enttäuscht. So sehr, dass sie sich abgewandt hat und gegangen ist.
Auch sie wird eine Hoffnung auf Leben gehabt haben.
Ich bin die erste Hoffnung gewesen. Die letzte auch.Ja – und: aber. Meine Unentschiedenheiten haben immer Gelingen verhindert. Etwas fordern und es zugleich unmöglich machen, so wie ich es zu erreichen versuche.
Will ich leben oder nicht. Ich lebe.
Sie hat nein gesagt. Mir bleibt nur das ja.
Sie hatte den Mut zu sterben.
Mir bleibt nur der Mut zum Leben.
Gelingen wäre: das Mögliche wollen.
Gelingen nicht länger durch Misslingen bestrafen. Gelingen mit Gelingen belohnen.Sie darf nicht vergeblich gestorben sein.
Lange hat mich kein Weinen so überschwemmt wie an der Elfenbeinküste, als der kranke Hund mich bewachte in der Nacht und bei Tag. Ich denke gern an ihn. Und sie in einer gesicherten Vitrine. In mir. Das Kostbarste unter Verschluss. Allerheiligstes. Ich muss vorsichtig sein, dass es nicht zerspringt und mir die Splitter ins Herz schneiden.
Kantige Bewegungen, Ecken, kleine Wunden an den Händen, Schnitte. Muttertag mit totem Kind. Mädchen, Mädchen.
Sie ist ein halbes Jahr tot.
Dreimal habe ich das gesagt. Dreimal bekam ich keine Antwort.Zusammenleben? Unmöglich. Ich habe schon lange nicht mehr daran geglaubt. Vor ihrem Tod nicht und nach ihrem Tod noch weniger. Aber ich sagte es nicht.
Sind es die Dinge selbst oder ist es meine Angst, die sie so explosiv macht.Unter Menschen. Hassanfälle schütteln mich auf alles, was lebt.
Die warmen Füße, die sich räkeln. Ich ertrage diesen Anblick nicht.
Hässlichkeit. Schönheit. Stottern. Lachen. Und alles lebt.
Ich möchte darauf schlagen. Totschlagen. Alle. Weg. Sollen sie. Sie können es auch nicht besser und leben. Wer gibt ihnen das Recht dazu. Alle überleben alles. Ich hasse sie dafür.
Und müsste doch für alles dankbar sein.
Gibt denn keiner keiner Antwort.
Die Welt tut mal wieder, was ihr am leichtesten fällt und schweigt.
In diesem Sommer gehe ich nicht nirgendwo hin. Ich bleibe zuhause. Ich ertrage meine Anfälle unter den Menschen nicht. Man muss es mir ansehen. Ich schäme mich dafür.Schreien im Auto. Dass mir das nicht früher eingefallen ist. Das ist eine Möglichkeit in diesem Land. Ich schaffe es nicht, immer wenn mir nach Schreien ist, nach Afrika zu kommen.
Vielleicht auch deshalb, weil es eine Wunschspur gibt, dass mich hier einer hören möge. Dass der Schrei nicht nur in meine eigenen Ohren zurückkommt. Immer in Angst, einen anderen zu verstören und zu verjagen. Der Einzige, den ich erreicht habe, hat mich in die Schranken gewiesen. Eingesperrt. Das war nicht schwer, aber es hat gewirkt.Meine Katze, die Winnie, ist krank. Seit ein paar Tagen hat sie eine geschwollene Backe. Die Zähne sind es nicht, ich habe nachgesehen, weiter unten an der Seite wird es dick und immer dicker. Dort mag sie sich nicht berühren lassen. Heute legt sie sich bei jeder Gelegenheit hin, das Gesichtchen auf die heile Seite, und wenn sie aufsteht, bewegt sie sich nur langsam. Von dem Hühnchen, das ich ihr anbiete, nimmt sie nichts. Geht langsam weg. Sieht mich mit leeren großen Augen an. Sagt nichts.
Wie dünn sie ist.
Stirb nicht. Nicht heute. Nicht so. Winnie!
Winnie -
Nicht heute. Nein, nein.
Neun Monate nach ihrem Tod.
Nein, nicht heute. Wo sich das Loch in meinem Bauch, das dieses Kind gerissen hat, schließt.
Nicht jetzt.Nach neun Monaten bin ich mit mehr Gewicht in der Welt. Ich entschließe mich, die sechs Pfund, die ich zugenommen habe, zu behalten. Es dauert länger, ein Kind herzugeben, als es zu bekommen.
Der Sessel, auf dem sie saß, als sie zuletzt bei mir war, wird vom Reißwerk des Sperrmüllautos zermalmt. Erst aufgerissen – soviel weißer Schaum quillt heraus – dann zermalmt.
Sie hatte auf mich gewartet. Wie so oft. Ich war zu spät. Wie so oft. Sie telefonierte, wie immer. Mit einem, bei dem sie gerade nicht war. Sie war traurig. Wie fast immer. Ich fuhr sie nach Hause. Wie immer.
Ich weiß nicht, ob sie die Frage noch einmal gestellt hat: Glaubst Du wirklich, dass ich noch einmal…?
Als die Nachricht kam, war da zuerst das Bild, wie sie auf dem Sessel sitzt. Saß. Warum habe ich sie nicht in den Arm genommen. Erst als sie kalt war. Und das letzte Telefon. Ihr Schluchzen. Warum bin ich da nicht hingefahren. Hätte sie gerettet für ein paar Wochen grauenvollen Lebens. Glücklich nur unter Ausschluss der Wirklichkeit.Was ist mir geblieben. Mein Haus. Mein Bau. Bauen hilft mir gegen den Tod.
Von dem Möglichen ausgehen. Ein Gefühl für das Mögliche bekommen. Die Sehnsucht nach dem Unmöglichen war eine tödliche Strategie.
Was ist. Was geht. Es ist viel. Es geht viel.
In solchen Augenblicken ist das Leben für mich allein fast zu schwer vor Freude, vor Leben, vor Glück.Alles habe ich in diesem Haus einmal in die Hand genommen und geprüft, ob es wieder einen Platz bekommen sollte oder nicht. Vieles habe ich hinausgeworfen, was mich schon lange gestört hat, vieles habe ich hereingeholt, was ich mir im Stillen gewünscht hatte. Ich habe rücksichtslos nach meiner Lust entschieden. Worauf sollte ich Rücksicht nehmen.
Es gab ein paar Wochen, da war ich bereit, ebenso entschieden die Geschichte mit Karim neu anzufangen, mit ihm und allen seinen Schwächen, die ich ja mittlerweile kannte. Wenn ich ihn will, dann gehört das dazu, habe ich gedacht, und ich konnte auch seine Stärken wieder sehen. Ich fand es nicht schlimm, dass er gerade jetzt, nachdem ich zwei Monate weg gewesen war, alles tun musste, wovon schon vor meiner Abreise die Rede gewesen war und was ihn nun von mir fernhielt.
Da habe ich mich auf das Haus gestürzt. Mit vielen Ideen, viel Einsatz und Freude daran. Ich sprang in die Tage, schlüpfte in die vertraute Stadt wie in eine gut sitzende Hose, fand dort, was ich suchte, an seinem Ort, und nahm mir davon, was ich wollte. Ich habe es genossen, mit den Dingen um mich herum so vertraut zu sein, dass ich mit geschlossenen Augen danach greifen konnte. Das war alles so leicht.Nie zu wissen, was womit zusammenhängt, auf einem dünnen Boden zu gehen, auf Wegen, deren Ziele ich nicht kannte, das hatte ich hinter mir und würde ich wieder vor mir haben. Es steht immer um mich herum, und der Wechsel zwischen beiden Leben verstärkt ihren Unterschied. Das Dort-mache-ich-es-So ist immer dabei.
Im November ließ ich ein anderes, ein auf den Kopf gestelltes Haus zurück, eines, auf das ich mich freuen konnte. Ich würde lange wegbleiben. Aber es war absehbar. Das war mir recht. Ich richte mich gerne in solchen Zeiten ein, deren Anfang und Ende ich kenne. Es erleichtert mich und macht mich ruhig. Jetzt hier, dann dort. Ich mag die trügerische Unendlichkeit nicht. Sie täuscht. Sie täuscht immerzu. Wenn schon nichts bleibt, so will ich das wissen.Lebte sie noch
nie hätte ich gewusst
wie lächerlich leicht das Leben doch ist.
Der Tod gibt jedes Recht.
Augenblicke ohne Schmerz fühlen sich an wie ein Glück.
Fliegen oder fallen, gehen konnten wir nicht. Jetzt lerne ich es. Zwischen dem Fliegen.Zwischen hier und Ouaga liegen die letzten Tage des ersten Jahres. Ich gehe lange fort. Noch nie habe ich mein Zuhause so lange verlassen.
Vor der neuen Abreise die Erinnerung wieder da an die letzte Nacht in Amman nach vier Wochen Unterwegssein: So glücklich wie in diesem einfachen Hotel an der Abdali-Station bin ich niemals zuvor und niemals danach wieder gewesen. Ich war heil. Heil wie noch nie. Als könnte mir nichts mehr passieren. Wie nach einem Tod. Ich fürchte das Fallen-gelassen-werden in der Gewissheit, dass es schon lange hinter mir liegt.
Hier sind die Netze immer schon gespannt. Tiefer als bis zum nächsten Telefon oder höchstens bis zu den Abendnachrichten kannst du nicht fallen. Es hält sich in Grenzen. 24 Stunden sind nie länger als ein Tag.
Vierundzwanzig Stunden sind länger als ein TagAbstürzen geschieht beim Einschlafen und Aufwachen. Der Moment des Dämmerns dazwischen tut ein Loch auf, in das ich falle. Der Sturz tut weh. Der Schmerz bleibt solange, bis er sich in Angst verwandelt vor dem nächsten Einschlafen.
Morgen wäre sie 30 Jahre alt geworden.
Sie hat so ein armes Leben gehabt. Kein Glück, wenig Freude, und so viel Angst. Zuviel Angst.
Lieber Angst als überhaupt kein Gefühl.
Dann ist es Liebe. Wenn Angst und Liebe immer miteinander auftauchen, heißt Angst haben geliebt werden.
Fast ein jeder hat die Welt geliebt, wenn man ihm drei Hände Erde gibt.Etwas Besseres als den Tod findest du überall. Habe ich gesagt. Den ersten Schritt nach überall, sie hat ihn nicht geschafft. Sie ist daran zerbrochen.
Und ich suche weiter nach dem nächsten ersten Schritt, dem neuen Aufbruch für den Zusammenstoß mit dem Anderen. Um täglich aufs Neue aufgebrochen heilzubleiben.
Unser Glück lag neben dem Zerschellen.An ihrem dreißigsten Geburtstag stehe ich am Meer. Ich bin allein. Mit ihr ohne sie.
Mein Schiff ist klein geworden. Mein Lebensboot ein Rettungsboot.
Und wieder einmal singt Louis Armstrong: what a wonderful world. Jetzt laufen mir die Tränen über das Gesicht und ich weiß, warum ich hierher gekommen bin: Bei allem, was in unserem Leben einmal schön und wichtig war, und was es wieder geben soll, muss ich zuerst einmal und jedes Mal aufs Neue von ihr Abschied nehmen. Von dieser Tochter in meinem Leben.
Bei allem, was es in meinem Leben gab, das ich wieder aufnehmen will, muss ich sie zuerst gehen lassen. Immer und immer wieder. Ob das je ein Ende nimmt -Ihretwegen gehe ich wieder fort
um ihr nicht zu schreiben
um sie nicht anzurufen
um ihr nichts mitzubringen
keinen Ohrring
keine Bluse
keine Kette
nichts1995