8.-17.4.2019 – keine bleibt ganz

 

8.4.2019

Unter Vögeln. Die Amsel über mir singt laut und lange bevor es dunkel wird und wenn es gerade hell geworden ist. Aber sie ist nicht die erste am Morgen, es sind leise zarte Stimmen, die den Tag beginnen. Dann kommen sie alle: meine Meisen, Finken, Rotkehlchen rauschen an meinen Ohren vorbei und steigen in die Birke. Da kann ich sehen, wer gerade singt. Ich liege in meinem Bett und schaue und höre ihnen zu. Es ist soviel Leben da oben: Der Fischreiher, die Enten, der Bussard, die Krähen ziehen vorüber, Tauben lassen sich in einer Birke nieder und gurren, fliegen wieder weg. Die Rotkehlchen sind bei mir zuhause. Sie machen ihr Nest im Wacholder.

Meine Tochter ist wieder da. Ihr Schweigen wird durch ein Missverständnis und Arbeit geklärt.
Ich kam allein nicht aus der panischen Spur, obwohl ich spürte, dass sie falsch war. Ich konnte meiner Entwertung nicht entgehen, musste hinein bis gegen die Wand. Schon verrückt. Oder krank.
Wäre ich wieder gesund? Es war das erste Mal, dass mich in der Sorge um das Wesen, das sein Leben mit mir teilt, das Trauma des Todes meiner Großen überwältigt hat. Nur der Kopf konnte unterscheiden, dem Gefühl half das nicht, das wollte Panik. Ich möchte etwas gelernt haben.

9.4.2019

Wenn mein Hund sitzen bleibt, als er das Eichhörnchen vor der Nase hat, dann muss er krank sein.
Er folgt mir nicht, als er sieht, dass ich in die Richtung gehe, wo er vorgestern beim Weg über den Bach gejault hat.  

Meine Nachbarin hat in der Zeitung von den Symptomen für Borreliose beim Hund gelesen. Da habe ich habe eine Blutuntersuchung verlangt.
Der Tierarzt hat angerufen: Die Untersuchung hat Borreliose bestätigt. Höchstwahrscheinlich. Inshallah.
Wir können etwas tun. Alhamdulillahi.

10.4.2019

Seit das Wort Borreliose bei uns ist, geht es Yalla besser: Sie springt ohne Aufforderung auf ihren Platz auf dem Sofa. Nun schon das dritte Mal. Ich staune. Soll das wahr sein? Das hat sie seit Wochen nicht mehr getan. Wir wissen, was ihr fehlt, und schon schafft Yalla Abhilfe?! Das kann ich doch keinem erzählen, schon gar nicht dem Arzt, bei dem ich heute das Medikament abhole. 

Kann man es mir noch recht machen? Gestern nervt mich die Freundin, die sofort ausschließlich das Positive sieht. Es ist wie ein Zwang zum Positiven. Nicht so! Heute kommt eine andere vorbei und nervt mich noch mehr: Ich mach es mir schwer – Probleme, nur Probleme – und jammere darüber. Leicht wäre zu einfach. Was ich sage, versteht sie nur ganz kurz. Ich war so übermütig, von meiner neuen Beobachtung zu erzählen.
Wo ist bitte die Mitte? Oder: Kann man es mir überhaupt recht machen? Mit der Freundin, die mir zum Antidepressivum geraten hat, habe ich schon tagelang nicht mehr gesprochen. 

Israel: Wahlwerbung mit restlos zerstörten Städten als Ziel künftiger Politik. 

Muss es so sein beim Altwerden, das man sich dieselben Sachen immer wieder erzählt? Weil man meint, dass nichts Neues mehr kommt? Oder weil man fürchtet, Altes zu vergessen?
So wie ich vergesse, was ich mir entschieden vorgenommen habe. Nach dem Denken ist es weg.
Wenn ich mir Notizen mache, geschieht es oft, dass ich sie später nicht mehr verstehe.
Mir bleibt nichts anderes übrig als zu warten, bis sie wiederkommen. Sie kommen wieder – zur falschen Zeit.
Verloren habe ich Ideen zu Timbuktu. Ist schon länger her und nicht wiedergekommen.

Wenn ich bleibe, um zu arbeiten, meiner Arbeit treu zu sein, gehen die Dinge langsam und schwer von der Hand. Widerwillig.
Als ich mich entschlossen habe, morgen loszugehen, mache ich die Dinge, die mir schon lange bevorstehen, mit Leichtigkeit und Geschick.
Als ich meinen Rechner auf den Platz stelle, wo es morgen weitergehen soll, überschwemmt mich ein Strom, der sich wie Liebe anfühlt. Und der Garten?

Hier höre ich auf. Es war Arbeit, wie ich sie mir wünsche: Fallengelassene Worte von fünf Zetteln aus sechs Wochen sind im Rechner verschwunden. Danke. Jetzt räume ich noch den Finder auf.
Ich freue mich auf den Frühling. Wirklich. Heute wo es manchmal ein bisschen regnet.
Es ist das Glücksgefühl wie immer dann, wenn sich eine Krankheit zurückzieht.

11.4.2019

Diese Welt stinkt! Diese Luft ist heute nicht zu atmen. Es ist das, was man uns gerade täglich mit TV vorführt.
Mein Hund riecht abends wie ein Acker. Er war nur im Garten.
Oben haben die Birken jetzt einen grünen Schimmer. Und die Buchen haben angefangen, ihre Blätter zu entfalten. Hier unten bei mir sind wir eine Woche später dran.

11.4.2019

Der Garten und die Angst, es falsch zu machen mit meiner Wiese. Nur dann, wenn ich den Vögeln zuhöre, mache ich nichts falsch. Dafür bin ich ihnen dankbar.
Oft mache ich etwas falsch, weil ich Angst habe, dann habe ich noch mehr Angst – und mache gar nichts mehr. Als ich gestern ins Bett gehen wollte, hat sie mich wieder gepackt. Auf dem Küchentisch lag immer noch der Flyer, der mich verhöhnt: Die Wiese. Das Paradies nebenan. Ich muss ihn nur sehen, um wütend zu werden. Dieser Hohn. Was soll das?!?
Wie schwer ist es, eine Wiese zum Blühen zu bringen, und wie leicht ist es, sie zu vernichten. Dazu muss man nur einmal mit Glyphosat drüberfahren, sofort schweigt sie und in ein paar Tagen ist sie gelb.
Jetzt sehe ich mir Filme an, in denen es Grillen gibt. Da kann ich sie – noch! – hören. Es ist auch ein Test für meine Ohren.

Ich lese immer wieder die Anleitung für das Einbringen der Samen durch.
Ich werde Helfer brauchen und Maschinen, wenn wir Erfolg haben wollen – die Bienen und ich.

13.4.2019

Magisch. Diese Stille, wenn die letzte Vogelstimme verklungen ist.
Dieser leise Ton, den ich nur höre, wenn ich meine Ohren ganz weit aufmache, so wie ich es mit den Augen tue, wenn ich einen Vogel hoch oben im Baum erkennen will.
Wenn ich nichts mehr höre, schaue ich auf die Uhr und sehe: Jeden Tag verstummt die letzte Stimme eine Viertelstunde später.

13.4.2019 

Am lautesten schreien am Himmel die Gänse.
Es ist Palmsonntag. Und wo war ich in den letzten Tagen?
Garten und Garten und Garten.
Ich will es noch einmal packen. Wenn es mit den Gelenken und dem Gehirn funktioniert, so sollte es doch auch mit dem Glauben an meine Kraft gehen. Ich schaffe das. Weil ich es schaffen will. Hier. Ohne mit meinen Schwächen zu hadern. Mir nicht böse sein, wenn ich einmal wieder suchend durch meine Welt laufe, gestern den Baum – die Traubenkirsche –, heute die Kurbel der Schlauchtrommel. Beides vergeblich.

Einmal musste ich in die Stadt und habe mich einmal wieder gefragt, warum mich das eine so große Überwindung kostet. Die vielen Menschen will ich nicht mehr. Menschen machen Hoffnungen und enttäuschen sie immer wieder. Ich habe gelernt, dass meine Erwartungen nicht zu den Menschen passen. Was bleibt ist – die Erinnerung an die Zeit, wo die Sehnsucht eine Zukunft hatte. 

Warum lasse ich Dinge los, bevor sie fertig sind? Ich spüre, wie ich einen letzten Griff, eine Drehung, einen Druck, einen letzten Schritt nicht tun will, vermeide. Lasse Türen lieber offen als sie abzuschließen, wenn ich gehe.  

15.4.2019

Ich habe mich daran gewöhnt, mit einem kranken Hund zu leben. Seine Tagesform zu spüren. Gestern  schaffte er die kleine Stufe ins Auto nicht, ohne dass ich nachhalf. Ich weiß jetzt, wie ich ihn packen kann, ohne ihm weh zu tun. Er lässt es sich gefallen. Heute morgen fand ich ihn nach dem Fressen auf dem Sofa, nicht davor auf dem Fell wie die Tage zuvor. Wie ich mich freue! Über den winzigen Bach in der Wiese hebe ich ihn dann wieder, als er umkehren will, um einen Weg ohne Bach zu suchen. Wir sind schon weit gelaufen. Weil ich nicht um die toten Felder laufen wollte, habe ich einen Weg hinauf durch den Wald genommen, den ich noch nicht kannte, den Vogelstimmen hinterher, bis die Ohren überlaufen.

Über den Feldern unten ist es still geworden, auch das Sonnenblumenfeld ist plattgemacht, wo mögen die Lerchen jetzt sein? Je mehr man weiß, desto mehr sieht man. Wann hört man auf, wissen zu wollen? Wo ich doch spät, zu spät, damit angefangen habe, wie so viele. Es war so leicht. Und jetzt?!?
Jetzt ist es zu schwer. Nicht auszuhalten. Es gibt kein Entkommen.
Was mir hilft, sind die Vögel, die mir zeigen, wie sie leben. Dankbar schaue ich ihnen zu und sorge gut für sie.
Als ich ums Haus gehe, knallt eine Amsel gegen mein Bein. Ich war ihr im Weg.

16.4.2019

Eine Mail von Freunden, die ich viele, viele Jahre nicht mehr gesehen habe. Wir waren einmal ein Arbeitskreis mit Literatur und PSA. Sie wollen sich wieder einmal treffen und schreiben hin und her von den wichtigen Dingen, die sie inzwischen gemacht und von den anderen gelesen haben. Sofort bin ich ein Mäuschen, das ungesehen in sein Loch zurück will – wer bin ich schon geworden, was habe ich erreicht?!? – Ja was: drei unveröffentlichte Bücher, Afrika. Ja! Auch ich habe gelebt! Der Gedanke macht mir Freude, ich werde allen schreiben und fragen: Seid Ihr auch schon so alt? Wenn sie es wollen, bekommen sie: 2017 mit 74

Ich arbeite im Garten und kämpfe ständig gegen die Angst, es nicht richtig zu machen. Zu spät nix gelernt. Mache ich zu viel oder viel zu wenig?
„Es wird gut sein“ – versuche ich zu denken, ich möchte mich freuen an dem, was ich mache, und danken dafür. 

17.4.2019

kuckuck kuckuck kuckuck – sie suchen sich Nester für ihre Eier aus.

Hoffentlich kommen sie nicht zu spät. Der Frühling fängt immer früher an, da sind die anderen Vögel schon ausgebrütet, wenn der Kuckuck zurückkommt. 

Die Nächte so hell. Das Mondlicht fließt durch alle Fenster. Der Mond steigt über dem Wald auf, wenn die Sonne den Horizont berührt.
Sand ist schwer. Ich brauche eine Menge für meine Wiese, unkrautfreie Erde auch, die hole ich von Maulwurfshügeln. Für den Sand fahre ich über Land. Wenn ich alles verteilt habe, muss ich den Boden wässern.

Es ist so warm und soll es bleiben, da will ich säen. Aber es regnet nicht. Hat schon lange nicht geregnet und ist auch in den nächsten beiden Wochen ist kein Regen zu erwarten. Und wo es dann regnet, weiß man auch nicht. Ich werde sehr viel gießen müssen.
Ich kann die Anleitung, die ich sehr ernst nehme, nicht befolgen: „es wird bevorzugt an feuchten regnerischen Tagen gesät.“ Bis ein solcher Tag kommt, ist alles, was ich freigekämpft habe, wieder mit Gras zugewachsen.  
Der Mondkalender empfiehlt für das Säen den Tag vor dem Vollmond. Morgen.

mit Vogelstimmen
in die Welt verwoben
so lang ich hören kann

 2000

Keine bleibt ganz

Es ist egal, wer es tut oder wem es geschieht, wenn getrennt wird. 
Du oder ich – hier kommt nur eine lebendig heraus!
Sie oder ich. Ganz egal. Wenn getrennt wird. Keine bleibt ganz.

Weg, weg, weg. Wir haben die Rettung in der Flucht gesucht, bevor wir gehen konnten.

Bin ich fort, ist sie bei mir. Bin ich da, ist sie fort.
Sie war immer schon drinnen. Oder noch. Oder wieder.
Dazu brauchte sie keinen Schlüssel. Wütend warf sie ihn mir vor die Füße gegen den von ihrer Wohnung, den sie zurückverlangte, damit ich draußen blieb.
Sie brauchte keinen Schlüssel, um in mein Haus zu kommen. Sie lieh sich ein Kind. Sprach die Mutter eines Mädchens an, die gerade vorbeiging, ob sie ihr helfen könnten, die Türe sei zugefallen und ihr Schlüssel im Haus. Die Vierjährige sollte sich durch das Katzenfenster gleiten lassen – für einen Erwachsenen ist der Abstand zwischen den Eisenstäben zu schmal, ein kleiner Kinderkopf geht gerade noch durch – die Treppen hinaufgehen und durch die Haustür herauskommen. Sie wird sehr freundlich darum gebeten und ihre dringende Notlage deutlich gemacht haben, bis die Mutter ihr das Kind überließ und meine Türe wieder für sie offen war.

Sie findet die Wohnung aufgeräumt und staubgesaugt, die Spülmaschine ausgeräumt, nichts soll nach mir riechen, Katzenfutter gibt es und wenige Konserven, einen Rest Kaffee, keine Milch. Der abgetaute leere Kühlschrank: Da lebt niemand.
Meine Spur, wenn ich gehe, ist eine Drohung. Die trifft sie. Ich könnte nicht wiederkommen.
Jede, die hereinkommt, kann da weiterleben.
Sie nimmt es ernst. Legt sich in mein Bett, liest meine Bücher, geht ans Telefon -
- Es muss ein Irrtum sein.
- Nein gibt es nicht.
- Ich sage doch, hier war nie jemand dieses Namens.
- Es gibt sonst niemand hier.
- Meine Nummer ist sechsneunundzwanzigelf.
- Mein Name?
Ich. Oder sie.
Sie legt auf.
Lässt warmes Wasser in die Badewanne und gibt Moschusduft dazu, den Rest vom letzten Weihnachtsabend, taucht darin ein und singt. Dann greift sie nach einem großen frischen Handtuch, cremt sich ein, putzt ihre Zähne. Gibt den wenigen zurückgelassenen Dingen unterm Spiegel – alte Lippenstifte, Salben, Cremes – eine andere Ordnung.
Sie holt die Post herein, die Zeitungen, legt alles auf den Küchentisch, fängt an, die Postkarten zu lesen, dann die Briefe, mehrmals, immer wieder, sieht die, der sie geschrieben sind. Dann füllt die die Katzenschüsseln und geht, um Milch zu holen für den Kaffee.
Sie steigt in meine Schuhe und geht mit ihnen weiter, auch wenn sie dazu dicke Socken anziehen muss.

An den Trockenfutterbergen in den Katzenschalen sehe ich,  dass sie dagewesen ist. Ich ließe sie verhungern, die Katzen, sagt sie mir später, und erzählt mir, wie jämmerlich sie geschrien hätten, die Tiere, als sie kam, die habe bestimmt niemand gefüttert.
Das darf ich keinem überlassen, das muss ich selber tun. Sonst gilt es nicht.
„Aber du bist ja nicht da, was weiß ich, wo du wieder warst!“
Auch wenn sie das nicht wusste, so wusste sie mich zu erreichen. Wenn es ein Telefon gab, fand sie die Nummer heraus, stand plötzlich vor mir und verlangte eine Antwort.
- Wo ist meine Kaffeemaschine.
- Die Heizung geht nicht.
- Wo ist mein Kraftfahrzeugbrief.

Sie brauchte kein Fenster mehr einzuschlagen.  

Es war ein Einbrecher, sagt sie, als ich einmal wieder von einer Reise zurück bin. Der hat das Fenster eingeschlagen, um in mein Haus zu kommen.
Er hat das Gas in der Küche brennen lassen, sagt sie.
Bis der Topf schwarz und der Schrank neben dem Herd angekohlt war.
Er hat den Korkenzieher zerbrochen.
Er hat die Seiten aus meinem Tagebuch gerissen.
Sie hat sie wiedergefunden und gibt sie mir besorgt zurück mit dem Rat, ich solle kontrollieren, ob dies alles sei, oder ob noch Seiten fehlten. Auch ein Adressbuch hat sie mitgenommen, um es vor Einbrechern zu schützen, eine Überweisung, auf der der Name ihrer Schwester stand, den breiten Ehering ihrer Mutter mit dem Namen ihres Vaters.
Sie gibt mir das alles wieder, fragt, ob noch etwas fehle, und rät mir noch einmal besorgt zu einem Sicherheitsschloss auch für die Kellertür.
Was würde es nützen, wo sie doch immer von innen kommt.

Sie hat in dem Haus meiner Eltern wohnen wollen, ist dreimal darin umgezogen, bis sie oben angekommen war. Ihre erste Wohnung für sich allein.
Das große Dach vor der Küche wurde zum Balkon gemacht, ich schenkte ihr eine Hängematte und blieb ihr das Geländer schuldig. Es war eine Wohnung ohne Grenzen, solange sie darin lebte.
Hinuntergefallen ist sie nie. 

Die Chronik eines angekündigten Todes berichtet von einem Mann, der vor seinen Mördern zu dem Haus seiner Mutter flieht. Die Mutter sieht nur die Verfolger, sie glaubt den Sohn schon im Haus und verriegelt die Tür. Der Sohn rennt vergeblich dagegen an, als er das Haus endlich erreicht hat. An der Schwelle empfängt er die tödlichen Messerstiche. Mit den aus dem Bauch hängenden Därmen schleppt er sich um das Haus herum und betritt es durch die Küche von hinten, wo es offen ist, um drinnen bei seiner Mutter zu sterben.
Ich bin vor meiner Tochter davongelaufen. Bin durch den Garten gerannt, über den Kies, mit ein paar Sätzen die Treppe ins Haus hinaufgesprungen und habe, als ich drin war, die Haustür hinter mir zugeschlagen.
Sie war draußen. Aufatmend lehnte ich mich von innen gegen die Türe – da sah ich,  diese gar keine Klinke und keinen Schlüssel hatte,  das Schloss abmontiert war. Leere Löcher an den Stellen für Griff und Schlüssel lachten mich aus. Ich lehnte mich nun noch schwerer mit dem ganzen Rücken gegen die Türe und hoffte, dass etwas auch ohne Griff zugeschnappt wäre, innen, in der Türe, ein Mechanismus, den ich nicht sehen konnte. Ich glaubte, ich hätte ihn gehört.

In dieser Nacht hatte ich die Küchentür vergeblich für sie aufgelassen.  Dass ich ihr immer die Türe von hinten aus dem Garten offenlasse, wo sie doch von vorne kommt, wenn sie mich drinnen weiß. Wütend auf die Haustür und die Klingel, die sie aufhalten und hindern wollen.
Wenn sie kommt.
Dabei habe ich ihr immer eine Türe offengelassen. 

Solange die Tür verschlossen war, konnte ich nicht schlafen. Wenn ich ein Auto hören würde, wollte ich hinuntergehen, aufmachen, ein paar Worte mit ihr reden.
„Halt doch den Mund, das bringt es einfach nicht!“
Als ob man miteinander reden könnte.
Kein Auto.
Ich kann nicht schlafen, wenn das Haus verschlossen ist und ich sie draußen weiß.
So gehe ich hinunter, schreibe die Worte auf den Zettel, die ich mir in den letzten Stunden ausgedacht habe, „H.! Bleib noch diese Nacht, fahr erst morgen, damit wir uns noch sehen, H.“
Ich lege das Papier auf den Boden, es ist der einzige Zettel in der ganzen Wohnung auf dem Boden, da wo nie Papier liegt und wo sie drüberlaufen muss.
Und dann gehe ich durch die mondhelle Küche zur Tür, heimlich, wo mich niemand sehen kann, und drehe den Schlüssel wieder herum. Eigentlich schäme ich mich, aber es weiß ja keiner, nur sie, wenn sie gekommen ist, vielleicht. Es ist kein Dritter im Haus.
Am Morgen, einem klaren kühlen Herbstmorgen, gehe ich und schließe sie wieder ab.
Denn sie war doch nur für sie bestimmt.

Keine Rettung voreinander.
Messerstiche im Holz meiner Schlafzimmertür in unserem Haus ohne Vater. Du oder ich – hier kommt nur eine lebendig heraus! – sagte sie und hieb mit dem feststehenden Messer noch einmal und noch einmal in die Tür.
Und dann holte sie den schweren von Gemüseabfällen stinkenden Eimer und kippte ihn vor meiner Türe aus. 

Du oder ich. Oder wir gehen beide. Miteinander sterben statt ohne einander zu leben.
Es war ein Glanz in ihren Augen, wenn sie mir vorschlug, mit ihr zu sterben. Das Aufleuchten darin, wenn ich durch ihr Locken unvorsichtig gemacht davon sprach,  dass mir der Gedanke an diesen Ausweg noch nicht fremd geworden war. Dass ich manchmal die Hochhäuser auf ihre Eignung prüfte, von ihnen herunterzuspringen und zu zerschellen.  Dass ich die Nachrichten als Angebot von Todesarten ansah. Es gibt viele Orte auf der Welt, wo der Tod leicht zu haben ist. Afrika. Ungeimpft mitten hinein.

Ihr Werben, ihr Versuch der Versuchung mit lebhaften leuchtenden Augen: Komm, lass es uns miteinander tun! Das ist das Glück.
Wenn sie mit diesem Vorschlag zu anderen ging, wurde sie ins Krankenhaus gebracht.
Verfolgt war sie und verführt von meinem Verstehen, von meiner Hoffnung nicht.
Hatte ich doch alle Hilfe verbraucht. Ihr nichts mehr gelassen. Keinen Weg, keinen Ausweg zum Leben.  

Dass ich mir in ihren Augen selber entgegengekommen bin, war ihr Unglück. Immer nur ich.
Keiner schloss die Tür zwischen uns.
Die Tür, die ich für sie offengelassen habe, hat sie von innen zugeschlossen, und den Schlüssel dabei zweimal umgedreht.
Das würde ich nie tun.
Dann hat sie das Haus durch die Haustüre verlassen.
Als sie in der Nacht noch einmal zurückgekommen ist, hat sie ihre Tür zum ersten Mal verschlossen vorgefunden. Weil sie mich nicht wecken wollte, ist sie zu ihrem alten Freund gegangen, der sie verprügelt und hinausgeworfen hat. Auf das Auge, die Nase, den Kiefer geschlagen ist sie geflohen. In den Ohren seine Drohung: Ich werde dich spalten von oben bis unten, von Kopf bis Fuß!

Am Sonntag hat sie hastig ihre Sachen zusammengesucht und sich von mir verabschiedet, um den nächsten Zug zu erreichen, der sie nicht zu spät heimbringen soll, sie habe noch zu arbeiten, sich vorzubereiten für Montag, sagte sie. Ein Freund hat mit laufendem Motor vor der Haustür gewartet, sie winkte, fort war sie. Am Montag hat sie ihr Vater zum Bahnhof gebracht, ebenso eilig, wenn nicht noch eiliger, und am Dienstag hat sie dort meine Freundin getroffen, begrüßt, leider hatte deine Tochter nicht viel Zeit – so erzählt sie – weil sie gerade abfahren wollte, ein Freund, ja, ein junger Mann sei auch bei ihr gewesen.
Sie war gar nicht fort, erfahre ich heute, ihr gestern ist morgen, sie war nebenan. Und da ist sie immer. Vielleicht war sie sogar im Haus, als ich zuschloß.

Sie sagt, gleich gehe ich, sagt es den ganzen Tag, am Abend beim Schwimmen, lehnt sie sich ein halbe Sekunde an meine Schulter. Flüchtiges Lächeln, die andere soll es nicht sehen.
Wir gehen um uns herum und belauern uns. Zeigen uns einander nur von der Seite wie zwei Katzen, die sich mit ihrem Buckel drohen und fauchen, so steif vor Abwehr, dass sie kaum laufen können, lächerlich.
Wie verfolgen unsere Spuren, jede die der anderen, und lassen Zeichen hinter uns, mit denen wir uns zeigen, dass wir dagewesen sind.
Das Licht an meinem Bett nach einer Woche Wegsein.
Bücher daneben, die ich lange nicht mehr in der Hand gehabt habe. „Das helle und das dunkle Zimmer.“ Über die Angst.
Wenn ich nicht da bin, liegt sie in meinem Bett und liest meine Bücher über die Angst.
Später erzählt sie mir, sie hätte das Buch in einer Buchhandlung gesehen und es gekauft. Es sei viel besser geschrieben als meines, das sie inzwischen auch gelesen hat und das ihr nicht gefällt. Sie fragt mich: „Für wen schreibst du eigentlich, wer will sowas denn lesen. Jetzt versteh ich, warum du es mir bisher nicht gegeben hast. Noch dazu mit diesen falschen Sätzen.“
Die andere dagegen, deren Buch sie in meinem Bett gelesen hat, die schreibt so, wie sie auch schreiben würde. Das ist doch etwas. Das ist gut.

Täglich erklärt sie ihre Welt zu einer neuen, damit es nicht auch die meine ist.

Als ich heimfahre, um ihr zu sagen: Eins sollst du wissen. Ich weiß um dein Unglück – da ist sie verschwunden.
Ihre Spuren tun weh.
Ich sage ihr nicht, wenn mir etwas wehtut, was sie sagt oder tut.
Ich sage es nie, wenn mir einer wehgetan hat. Das gönne ich keinem.
Wenn ich sie mir jetzt vorstelle, irgendwo auf der Autobahn zwischen Augsburg und Trier, es regnet, wie auf der Autobahn von München nach Augsburg, von der ich gerade komme, und sie ist allein – so wie ich – und flieht, weiß nicht wovor und wohin, aber es ist eine Flucht, – dann tut mir das weh, und sie tut mir leid, so furchtbar leid. Und ich weiß, dass es gar nichts nützt, dass ich ihr helfen möchte, sie in den Arm nehmen, sagen: Hab keine Angst, es wird schon gut. Ich bin ja da.

Das nützt ihr nichts. Es darf sie nie erreichen. Es ist das Schlimmste, was ihr passieren kann. Es gibt nichts Schlimmeres.

unser zugenähter Mund
wer trennt ihn auf
Worte sind dahinter
bewegen sich, toben, weil sie nicht herauskönnen
aber davon dehnen sich die Fäden kein bisschen

Sie ist immer schon fort und ich fühle nur noch ihre Spuren. Die Ordnungen von ihren kleinen Händen, die eines Tages und viel zu früh einfach nicht weitergewachsen sind. 

Zwei gestempelte Briefmarken, deutsche Sondermarken, liegen mit einer Büroklammer zusammengeheftet auf der Treppe, das Nachthemd, das sie in der letzten Nacht getragen hat, zusammengefaltet auf dem Kopfkissen. Im Keller steht die gefüllte Waschmaschine mit einer von mir im zehnten Schuljahr mit blauen und gelben Schiffchen bedruckten Decke sorgfältig zugedeckt und eingehüllt.
Küchentisch und Schreibtisch sind so leer, dass ich erschrecke. Neben dem Telefon, das sie an den Automaten gehängt hat, liegt ein Zettel, dass ich mir keine Sorgen zu machen brauche, mit der Telefonnummer von dem Freund, vor dem sie flieht, und einem Danke für Kreislauftabletten und Aspirin, die sie mitgenommen hat. Wie auch die angeschlagene Kaffeekanne und die Reiseschreibmaschine.
Gegangen, nachdem sie aufgeräumt hat, ihre Sachen und manche von mir. Das Badewasser von heute morgen, in das sie nicht gestiegen ist, hat sie kalt, wie es inzwischen war, aus der Wanne gelassen.

Meine Jacke steht ihr gut. Ich möchte sagen, behalt sie, aber – es  muss ein Unterschied sein – ich sage: Ich brauche sie jetzt und sofort. Schnell zieht sie sie aus, ertappt, und auch gleich den Rock, und ich denke erschrocken, oh Gott, hoffentlich ist ihr nicht kalt. Warum hab ich sie ihr nicht gelassen. 

Wenn mich das Telefon ruft, nutzt sie die Gelegenheit, um zu verschwinden, und immer nimmt sie dabei etwas mit. Soweit die Telefonschnur reicht, laufe ich ihr hinterher, dieses Mal sind es die Stiefel,
- He, meine Schuhe!
- Ich komm ja gleich wieder!
- Das hast du gestern auch gesagt und bist erst abends gekommen -
- Ja, aber wenn ich deine Schuhe anhabe, komm ich schneller zurück!
- Ach so?
- Wo sind überhaupt meine Schuhe, ich kann sie nicht finden –
- Unter dem Tisch in der Küche –
Widerwillig schnürt sie sie sich an die Füße und geht. Nicht für lange, sagt sie, sie hat ja nur einen Schlafanzug an unter dem Mantel.
Ich höre ihr Heimkommen in der Nacht nicht mehr, ich  schon geschlafen haben. Am nächsten Tag finde ich sie nicht alleine in ihrem Bett.

Der Wunsch, einmal
nur einmal am Morgen
mit meinen Füßen in
die Schuhe zu passen
die am Abend neben
meinem Bett stehen
geblieben sind

sie nicht
jedesmal wieder als Boote vorzufinden
in denen sich meine Füßchen verschwimmen

ich werde wieder einen ganzen Tag brauchen, bis ich gehen kann

Es ist hell geworden inzwischen.
Der Tag trennt die Dinge wieder, die das Dunkel verbunden hat, und stellt sie nebeneinander.
Es ist die Trennung, nicht die Vereinigung, aus der das Neue entsteht.

Am Morgen sagt sie, in zwei Stunden komme sie wieder. Am Abend ruft sie an, ob wir zusammen essen. Ich sage: Ich hab schon gegessen. Ich sage nicht: Ich habe den ganzen Tag auf dich gewartet, ich wollte uns Spaghetti kochen, habe Tomaten für einen Salat beim Türken gekauft und Trauben.
Sie sagt: Ich habe auch schon gegessen und nachher geh ich ins Kino. Allein.
- Ich vielleicht auch.
- In welches?
- „Salz auf unserer Haut“
- Nein! Den will ich auch sehen. Vielleicht treffen wir uns. Danach geh ich was trinken und heule mich aus, dann fahre ich wieder.
- Und das Auto?
- Das bring ich noch vorher zurück.
Wir treffen uns nicht, weil ich zuhause war. Da werde ich wieder die ganze Nacht warten.
Nun kommt sie nicht mehr. Ist gefahren ohne Geld, ohne Führerschein, ohne Ausweis. Als wollte sie der Welt einmal mehr beweisen,  man alles, was ihr wichtig ist, nicht braucht. Unterwegs mit dem Auto ihrer Schwester, die davon nichts ahnt.
- Was geht das dich an! Ist sie meine Schwester oder nicht?!“
„Ich bin meine Schwester“, hat sie gesagt. Missbrauch von Ausweispapieren. Vorbestraft. 

Zum Kaffee wollte sie kommen, etwas später, erst nachmittags um fünf. Um halbacht, als ich gerade weggehen will, ruft sie an, jetzt machte sie sich auf den Weg.
- Ich will in die Stadt, eine Lesung, sehen wir uns da?
- Vielleicht. Weißt du, ich hatte keine Uhr, wirklich, ich hatte keine Uhr, ich habe gedacht, du bist immer zuhause.
Später, in der Pause, hält sie mir ihren nackten Arm vor die Augen, den Beweis: Siehst du, ich hatte wirklich keine Uhr.
Zuhause gieße ich den lauwarmen Kaffee aus der Warmhaltekanne und trage den Kuchen in den Gefrierschrank zurück. Geizig.

Vorgestern wollte sie kommen, hat es dann auf gestern verschoben.
Ich warte auf sie, noch nicht am Morgen oder am Mittag, aber am Nachmittag und gegen Abend. Dann nicht mehr, erst wieder heute. Es ist ihr Geburtstag, der vorletzte, sie ist nicht da.
Loslassen, sagt sie, soll ich sie.

Wir essen die Torte ohne sie, trinken den Sekt, am Abend schicke ich ein Telegramm an ihre neue Adresse.
Herzlichen Glückwunsch zu Deinem Geburtstag – zur neuen Wohnung und zum neuen Anfang! von Deiner Mam.
Nein, kein Ausrufezeichen, das ist zu aufdringlich, das wirft sie mir zurück, auch nicht Mam, ich bin für sie keine Mutter, sagt sie, die Hoffnung, dass ich es sein könnte, habe sie aufgegeben. Ein für alle Mal.
Ich wünsche dir alles Gute zum neuen Anfang. H.
So wenig?
Nicht mehr. Ich konnte ihr keine Freude mehr machen. 

Ich bin hier und dann fahre ich und vorher hole ich noch meine Sachen. Ist dein Freund schon da? – Und wann seid ihr nicht zuhause? Dann komme ich.-
- Wir bleiben da. –
Wir sind nicht geblieben. Als sie kommt, sind wir gerade gegangen, als wir wiederkommen, sind ihre Sachen fort. Nichts steht mehr dort, wo ihre Dinge waren. Durch die Türe, die ich ihr offengelassen habe, ist sie nicht gegangen. Nicht herein und nicht hinaus.

Der Anruf mit einer gepumpten Mark.
- Kannst du mir … -
- Wo bist du?
- In einer Raststätte zwischen Heidelberg und Trier -
piep —
In Deutschland scheint heute überall die Sonne, nur im äußersten Norden ziehen Wolkenfelder vorbei. Vielleicht ist es in Trier gar nicht so kalt.

Ihr Anruf am Nachmittag und die Frage, wie es mir gehe und meinem Freund. Sie sagt mir,  dass sie die Abmeldung aus dieser Stadt mit meinem Namen, der nicht der ihre sondern der ihres Großvaters ist, unterschrieben habe, sonst hätte alles zu lange gedauert.
- Nur  dass du Bescheid weißt!
- Ja. Ist in Ordnung. Ausgezogen am 30.9.1992. H. T.
Und sonst?
Es piept.
- Ich hab noch eine Mark.
- Wie geht es dir sonst?
- Besser.
- Das ist gut.
- Ich habe jetzt einen Arzt, der schickt mich vielleicht in eine Kur.
Das Piepsen.
- schön, dass ich dich gehört habe –
Das hat sie nicht mehr gehört. 

Am Abend:
- Ich bin in einem Hotel in Koblenz, da werde ich noch zwei oder drei Tage bleiben. Die Adresse ist: Bahnhofsplatz 6.
Was soll ich mit dieser Adresse. Was soll ich wissen.

 Ein paar Stunden später, hastig, aber freundlich:
- Ich habe nur vierzig Pfennig, der Zug kommt um 19 Uhr 40 an, dann komm ich zu dir zum Abendessen.
Ich bin erschrocken: Mein Freund kommt, ich habe eine Verabredung, ich bin nicht da.
- Dann geh ich eben zu H.  
- Und zu deinem Vater?
- Nein, warum?
- Wie können wir das dann machen?
piep —

Ich höre tagelang nichts von ihr. Den Zug um 19.40 gibt es nicht. Sie ist in der Stadt. Soviel weiß ich. Immer ganz in der Nähe. Nicht aufzufinden. Am Sonntag um 12 Uhr kommt sie, um ihren Pass zu holen. Ihr Zug geht um 13 Uhr 12.
Auch gestern muss sie dagewesen sein. Die Küchentüre war offen, wie immer, nur innen, da war jetzt eine zweite Türe, an deren Klinke sich der Griff der Außentüre verhakt. Es ist Winter.

Was willst du von mir?
Diese Frage macht sie wütend, mich traurig.
Was willst du von mir!
Die Frage wird zu einer Waffe, mit der ich sie mir vom Leib halte, an den sie mir will. Fürchte ich.
Diese Waffe kann sie nicht überwinden, manchmal ist sie ja auch nur eine Geste, ein Blick.
Wenn mein Körper zurückzuckte, bevor ich einen Schritt auf sie zu machte.
Wenn meine Augen erschrocken fragten: Was willst du, das ich nicht habe? – bevor sich ein Schleier von Freundlichkeit darüberlegte, den sie herunterreißen und verbrennen wollte.
Stattdessen machte sie Feuer auf dem Küchentisch, an dem wir auf ihren ganz besonderen Wunsch an ihrem 18. Geburtstag Haschischtee miteinander getrunken hatten, und nährte es mit ihren in kleine Fetzen zerrissenen Gedanken.
Wenn ich nein, nein und nein denke und zögernd und langsam ja sage, ja, aber, ja – dann möchte sie mit einem gehen, der ihr Gewalt antut und sie verletzt, dass es wehtut.
Und sie findet einen, sie findet mit Sicherheit einen. Ich fürchte, sie findet ihn bald.
Ein Stich im Ledermantel, den ich trug, als ich jung war wie sie jetzt, in der Höhe der Brust. Der Mann, der ihn ihr zufügte und der ein Freund in unserem Haus geworden war, als er sie vergewaltigen wollte, hat seine nächste Freundin umgebracht. Der Schnitt in meinem Piroschka-Mantel dort, wo das Herz ist, hat sie getroffen. Aber die Nächste erst ist daran gestorben.

Die Sprache auf den Karten, die sie mir schickt von ihrem schlaflosen Unterwegssein, wird immer fremder, bis ich sie gar nicht mehr verstehe. Ratlos schaue ich auf das chinesische Schriftzeichen mit einer Schleife.
Was soll ich hier verstehen. Hilf mir doch.
Als sie kommt, sammelt sie ihre Zeichen ein und erklärt sie mir, mein Name komme darin vor und von Liebe sei die Rede. Es ist zuviel Bedeutung für mich. Ich nicke und sage: ach so!
Vielleicht könnte man sie wirklich verstehen, diese Zeichen, nur ich kann es nicht. So tue ich so, als hätte ich etwas verstanden, und lüge.

Sie sagt: Freundlichkeit, Zärtlichkeit, Wärme – das kannst du dir sparen, das wird bei dir einfach nichts.

Sie will mehr, immer mehr als ich habe.
Genug ist nie genug.
Gib mir mehr. Gib mir mehr.
Ich will viel, ich will es heiß, ich will es süß.
- Hast du noch Marmelade? Gibst du mir welche mit, ja?
- Natürlich, sage ich, und: gerne! und hole ein Glas aus dem Keller, nur eines, nicht drei, wie ich es früher getan habe. Ich wusste,  ich auch dieses eine verschimmelt in ihrem Kühlschrank wiederfinden würde. Es schmeckte ihr gut, was ich kochte, bis sie es fortwarf, weil es vergiftet war. Ich will das Beste, nicht das Billige, wie du mit deiner Sparerei, die ich so hasse. Denn du bist geizig. Sagt sie. Ja. 

Vielleicht hat sie mich doch nur lieben wollen. Das war das Unglück.
Die Katastrophe vor unserer Zeit. Sie hat immer schon stattgefunden. Aber sie konnte jederzeit wiederkommen.
Sie hat mich nur lieben wollen. Aber ich. 

Dem Hund, der mir zuläuft auf meinen Wegen allein, der mich begleiten will, wie es scheint, sage ich: Geh! Und ich tue, als sähe ich ihn nicht. Dabei zittere ich und halte die Luft an vor Angst, er könnte mir bleiben.
Es wäre mein größter Wunsch.
Geh, geh, trau mir nicht! Es ist eine Täuschung, dass du mir vertrauen kannst. Geh.
Keiner liebe mich.
Keine liebe mich!

Sie wurde dünn. So dünn. Sie passte wieder in Jeans in Kindergrößen.
Und sie war schön. So wunderschön in ihrer Durchsichtigkeit. Ihr war kalt.
Sie kauerte am Heizkörper in meinem Arbeitszimmer, den Rücken an dessen Rippen gedrückt.
Ich wollte mit ihr sprechen:
- Sag mir, was willst du -
- Ich? Von dir doch nichts!
Ertappt sprang sie auf, die Treppen hinunter, die Haustür schlug hinter ihr zu.
Dem Nachbarn streckt sie die Zunge heraus. Ich sage: Es tut mir leid, denke: Das galt ja mir. Ich bin das Böse, das sie sieht, das sie ist.

Nur in der Verstörung konnte sie glücklich sein. Wenn sie von Glück sprach, dann war es in den Hochflügen der Krankheit, die man Psychose nannte. Nach diesen sehnte sie sich zurück aus der Hoffnungslosigkeit, in die sie dann fiel. „Auf Psychose – das war toll.“ Auf ihren Irrfahrten durch Deutschland, mit dem gemieteten Transporter, den sie wochenlang nicht zurückbrachte, da muss sie sich frei, vielleicht glücklich gefühlt haben. Von einem Hotel wechselte sie zum anderen, obwohl sie schon gar nicht mehr schlafen konnte. Oft gab es einen Mann, der sich an ihr festhalten wollte.
Wie sie die nur immer wieder fand und verlor.

Als ich ihren Spuren folgen musste, um die Dinge zurückzunehmen, die sie in die Welt gestreut hatte, bin ich den Menschen begegnet, die sie erlebt hatten, laut in der Nacht, durcheinander bei Tag, ein ständig Betrunkener bei ihr, für den sie sorgte. Von ihm hatte sie manchmal mit einem glücklichen Lächeln erzählt. Eines Tages fand sie ihn nicht mehr. Fuhr wieder durch Deutschland, ihn zu suchen, und gab auf.

Sie wurde so leicht. Nicht mehr viel, nicht mehr lange, dann würde sie fliegen können.
Ihre Schwester holte sie nach Hause. Erschöpft in schlafloser Müdigkeit.
Ich sehe, wie ihre Hände sich an dem Besteck festhalten und es sorgfältig und zitternd genau parallel auf den Teller legen, bevor sie ihn wegschieben.
Sie konnte nicht mehr schlafen. Tagelang nächtelang wochenlang. Wie sie sich quälte. Sitzend an die Wand gekauert fielen ihr die Augen zu. Bis sie sich hinlegen wollte, dann war es vorbei. Am unmöglichsten: im Bett Ruhe zu finden.
Bis ich es nicht mehr mit ansehen konnte und sie so geschwächt war,  sie keinen Widerstand mehr leistete, als ich den Vorschlag machte, mit ihr zum Arzt zu gehen. Leben ohne zu schlafen, ich stellte es mir grauenvoll vor. Ich habe mit ihr Hilfe gesucht. Die Ärztin lieferte sie ein. Ich musste sie in die Klinik bringen.
Sie bat mich, sie flehte mich an, dass ich ihr versprach, sie dort heraus zu holen, wenn sich ihr Zustand der Dumpfheit und Angst nicht veränderte. Damit sie die Möglichkeit hätte, sich umzubringen.
Als ich sah, wie wichtig ihr das war, sagte ich ja. Und es schien ihr den Weg zu erleichtern, wenn nicht überhaupt möglich zu machen. Ich sah keinen anderen Weg.
Und ich war so sicher,  dass es ihr bald besser gehen würde, wie hätte ich sonst ja gesagt zu diesem grausamen Pakt.

Eingefangen wurde sie schwer. So schwer. So dick.
Sie bekam den breitbeinig tappenden Gang eines Menschen, dessen Körper von den Füßen weggewachsen ist. Der gehörte ihr nicht mehr. Tabletten und Torte. Von allem zu viel. Dann das Urteil: Leponex. Die gefürchtete Droge.
Sie gehörte sich nicht mehr.
Sie lief nicht gerne, ließ sich fahren. 

Warum soll ich gehen, wenn ich nicht weiß, warum ich gehe. Wie lange soll ich es tun und für wen. Ein Schritt für die Mammi, ein Schritt für den Pappi, der Opa und die Oma sind auch schon lange tot. Für die Schwester noch einen und vielleicht einen Freund und für alle, die sagen, es sei für mich.
Mit dem Taxi kam sie schon, als sie noch leicht war. Warten? – nein, wozu.

Ich fuhr sie stundenlang spazieren im warmen Auto durch die Sonne und den Schnee unserer westlichen Wälder. Dann Kaffee und Kuchen, ein Stück Torte und noch eines.
Café Heider. Zurück ins Krankenhaus.
Sie: „Glaubst du, dass es noch einmal gehen wird?“
Da war ich immer noch überzeugt. 

Ich habe sie in die Falle gelockt.
Mein Versprechen. Mein Verrat.
Ich habe sie verraten, als ich sie alleine sterben ließ. Habe sie stehengelassen mit ihrem größten Liebesbeweis: Komm, sterben wir zusammen.
In ihren Augen war ein schimmernder Glanz, wenn sie mir lockend und verführerisch ausmalte, wie schön es wäre, wenn wir gemeinsam aus diesem Leben gingen.
Ich habe sie verstanden. Und es hat mir gegraut.
Dieses Vertrauen. Ich war es nicht wert.
Ich war es wieder nicht wert.

Viel später, als es sie hier nicht mehr gab, erzählen mir Nachbarn, wie sie mich gesucht hat.
„Wo ist meine Mutter? Sie muss hier sein, sie ist immer in ihrem Garten.
Man hat sie umgebracht. Bestimmt. Ich weiß es. Sie liegt in den Büschen. Ich muss sie suchen. Meine Mutter ist tot.“

Manchmal fehlt mir ihr wissendes Lächeln so sehr. Dieses traurige Verstehen, denn: Ich bin wie du.
In Zeiten, wo sie ruhiger war, unglücklich und ruhig, konnten wir darüber sprechen, was ihr fehlte, was mir fehlte, was uns nie­mand gegeben hat. Ich versuchte zu lernen, es nun von mir selbst zu er­warten, sie weigerte sich. Zauderte, beneidete mich um das, was ich erreicht zu haben schien und was sie nicht kannte: Autonomie. Fortgehenkönnen. Die Einsamkeit, die zu meinem Leben auch gehörte, machte ihr Angst: Das kann ich nicht, das will ich nicht. Sofort und immer soll einer da sein. Wie hältst du das nur aus! Kaum war sie da, telefonierte sie dorthin, wo sie hergekommen war oder wo sie später hingehen wollte, nur wenn das Netz dicht genug war, wurde sie für eine kleine Weile ruhig. Sprach viel, sprach laut, stellte selbst fest, dass sie niemals flüstern konnte, auch in der Schule nicht, musste merken, wie man sie mahnte, zurechtwies, verstand das und verstand es nicht.
Zuletzt verstand sie immer weniger. Dass man nicht den ganzen Inhalt eines Rucksacks auf den Boden des Flughafens schütten konnte, um eine Adresse zu suchen, die schon lange verloren war. Dass man nicht alle Kleider, die man mitnehmen wollte, in die Ver­packung eines Kühlschranks stopfen konnte, sodass der Karton keinen Millimeter mehr zu bewegen, geschweige denn zu tragen war. Dass man einen Leihwagen zurückbringen musste.  Dass man sich nicht nackt auszog unterm Weihnachtsbaum, um den herum die Gäste saßen, mit denen man das letzte Weihnachten spielte.

Trier wäre auch eine Stadt.
Nachgefahren fand ich die hilflosen Ordnungen von ihren kleinen Händen. Versuche, dem Chaos ihrer Welt mit einer kleinen Ordnung zu begegnen. Herz- und Kreislauftees. Beruhigungstee. Kamille gegen Enttäuschung. Hundert Bügel an der Stange im Schrank. Einer für jedes Hemdchen.
Übersichtliche Schubladen. Wenn sie es machte wie der Vater, der ihr auf seine Weise helfen wollte, vielleicht ging es dann. Schrauben zu Schrauben und Nägel zu Nägeln. Verschiedene Schraubenzieher, ein Hammer, Leim. Welch hilflose Hoffnung. Als hätte sie noch etwas zusammenschrauben oder zusammennageln oder zusammenleimen oder zusammenhalten können. Ein Akkuschrauber war über dem Fernseher an der Wand angebracht. Magie. Die dunklen Bilder mit Kohle oder wild-düsteren Farben daneben.
Die Fernbedienung ist ein Taschenrechner.

Kerzen mussten uns helfen, uns zurechtzufinden, als wir – ihre Schwester und ich – die Dinge heimholten, die sie zurückge­lassen hatte. Der Strom war schon lange abgeschaltet. Bei Kerzenlicht packten wir zusammen. Kerzen hatte sie immer und ich die Angst, wenn ich verkohlte Regalbretter fand.
Als mein Auto bis obenhin voll war, mietete ich einen Leihwagen und wir fuhren mit allen ihren Dingen nach Hause. Ich brachte den Leihwagen am nächsten Morgen zurück.
Den Akkuschrauber benutze ich oft. Aber nicht nur damit hilft sie mir.
Ein gelbes Feuerzeug mit schwarzer Schrift: Taxi in Trier 33030 liegt neben meinem Telefon.

Sei doch froh, wenn du mein Zeug wegräumen darfst. Ich lasse dich meine Mutter sein. Wie hättest du es sonst ausgehalten.