19. – 25.4 2019 – Vogeltage

  

19.4.2019

wären die Vögel nicht gewesen
hätte ich den roten Mond nicht gesehen
bevor er verschwand

Am Abend war es dann so weit.
Ich habe den Samen auf die Erde gebracht und gegossen. Davor noch ein zweites Mal vertikutiert.
Ich habe das Wasser lange laufen lassen – bis es anfing, aus dem Schlauch zu spucken. An den Waschbecken war es das Gleiche. Wie tief ist eigentlich mein Brunnen? Könnte er leer sein oder reicht der Schlauch nicht mehr bis ins Wasser? Ich weiß gar nicht, wann es zuletzt geregnet hat, so lange ist es her. Ich spüre eine afrikanische Sehnsucht nach Regen. Möchte die schwarzen Wolken herunterholen. Aber sie ziehen weiter, manchmal geben sie leichten Wasserstaub ab, der schon in der Luft verfliegt. Wie soll ich da eine Blumenwiese wachsen lassen?!? Blüten für die Insekten, die Bienen und die Vögel – und es ist kein Wasser mehr da. Die Geschichte des Wassers. Trifft sie jetzt auf mich?
Was mache ich, wenn mein Brunnen austrocknet? Wäre das das Ende meiner Lebensform? Wann ist es so weit?

Die Nachtgedanken reichten weit in den Tag. Ich bin in Panik. Muss etwas tun, auch wenn es mir wieder ganz und gar falsch vorkommt. Ich mache den Brunnen auf und lasse eine langen Stock hinunter: Für das Wasser im Haus ist noch genug da.
Für meine Wiese schaue ich nach einer Tauchpumpe, die ich an die Quelle hängen und zum Wässern einsetzen kann.
Ich rufe den Mann an, der meine Pumpe installiert hat, und ihm fällt manches ein, worauf ich nie gekommen wäre: verstopfter Filter zum Beispiel. So einfach könnte es sein. Apollo 13 soll ich anschauen, da könnte ich sehen, dass es immer Lösungen gibt. Bei den Männern, den Ingenieuren, die der Welt weiterhelfen. Halleluja.

Ich denke an Ingeborg Bachmann und die Mutter in Alles, die ihrem Sohn und seinen Freunden beim Beseitigen von Hindernissen in einem Wasserlauf am Randstein zusieht.

Das Wasser floss über die Steine. Sie starrten darauf, stumm und feierlich. Es war geschehen, vollbracht. Vielleicht gelungen. Es musste gelungen sein. Die Welt konnte sich auf diese kleinen Männer verlassen, die die Welt weiterbrachten. Sie würden sie weiterbringen, dessen war ich nun ganz sicher.
Die Welt war weitergebracht worden, der Ort war gefunden, von dem aus man sie vorwärtsbrachte, immer in dieselbe Richtung. Ich hatte gehofft, mein Kind werde die Richtung nicht finden.

Ich wollte dieses Kind nicht mehr. Ich hasste es, weil es zu gut verstand, weil ich es schon in allen Fußstapfen sah.
Wo gibt es diese Insel, von der aus ein neuer Mensch eine neue Welt begründen kann? Ich war mit dem Kind gefangen und verurteilt von vorneherein, die alte Welt mitzumachen. Darum ließ ich das Kind fallen.
Dieses Kind war ja zu allem fähig, nur nicht, auszutreten, den Teufelskreis zu durchbrechen.

Man hält es nicht für möglich, aber es gibt keinen Ausweg für unsereins. Immer wieder teilt sich alles in oben und unten, gut und böse, hell und dunkel, in Zahl und Güte…

1959

2019: Mein Wasser läuft inzwischen wieder ruhig und gleichmäßig.
Aber sie war wieder da: die Angst, die sich meinen Lebensnerv krallt. Ich entkomme ihr nicht. 

Zwei blutige Schienbeine, ein geschürfter Ellenbogen – Karfreitag.
Ich habe den ersten Frühlingsausflug mit dem noch schwachen Hund gemacht. Als er nicht weiterwollte, bin ich abgesprungen mit der Leine in der Hand, das ging nicht gut. Beine und Rad sind durcheinander gekommen. Ich habe den Weg abgekürzt und bin lange an einem Weiher gesessen, ich habe Fröschen und Vögeln zugehört.  Schwalben fangen über dem Wasser die Mücken, bringen sie nach Hause, kommen wieder und wieder. Dort gibt es weite Wiesen, der Löwenzahn leuchtet rundherum.
Der Cappuccino bei den blühenden Bäumen auf dem Heimweg fällt aus, mir müssen 2 € aus der Hose gefallen sein, als ich sie am Wasser auf den Boden gelegt habe. So hatte ich nur noch zwei. Dafür gibt es keinen Cappuccino. Fahren wir weiter, es ist nicht mehr weit nach Hause, nur noch den Feldweg. Hier gibt es nur braune und grüne Felder. Da leuchtet gar nichts. Aber als ich das Gartentor aufmache strahlt mich der Löwenzahn an. Zum Eintauchen!
Klar: Das ist keine Kunst, man muss nur nichts dagegen tun. Die Kunst wird meine bunte Wiese sein, inshallah.Unser Außenminister sitzt mit einem defekten Flugzeug in Bamako fest. Ausgerechnet Mali.

20.4.2019

Ein blutig geschürftes Knie – Karsamstag.
Zwischen den Feldern wurde es warm, und ich wollte im Gehen meine Weste ausziehen. Die ist am Stock hängen geblieben, und der ist mir vor den linken Fuß geraten. Da lag ich dann. Schon wieder. Weil ich die Stöcke in der Hand hatte, konnte ich mich nicht richtig abfangen. Das darf ich keinem erzählen, sonst sperren sie mich ein.

In Mali ist die Regierung zurückgetreten. Wieder ein Hoffnung weniger. 

21.4.2019

Hier ist mein Übergang.
Passt doch zu Ostern: es wird weitergehen, nur anders. 

Ich möchte meine Ohren
nach allen Seiten drehen können
damit sie auffangen
was die Vögel
in die Luft
werfen

Auferstanden
Um elf Uhr kam der Mond über den Wald und die Glocken läuteten lange.  
An diesem Ostermorgen weckt mich Vogelgesang aus dem Baum über mir, dann singen mich die Drosseln, Finken und Amseln noch einmal in einen leichten Schlaf, sie begleiten mich. Rauschen an meinen Ohren vorbei, hüpfen um mein Bett. Ein Rotkehlchen kommt immer näher, bis es in die Wiese abbiegt. In der Birke rufen sich die Meisen. Das ist meine Welt! Staunend und dankbar steige ich in den Tag.
Ich kann den Frühling fühlen.
Und ich liebe den Boden, auf dem die Samen liegen, und gieße sie gerne dreimal täglich.

Meine Tochter gibt mir den Rat: Vielleicht solltest du mit einem Dreirad fahren? Sie hat meine Beine gesehen.

22.4.2019

als sich die Lerche
jubelnd
in den Himmel warf
konnte ich
ein kleines Stück
mit ihr fliegen

23.4.2019 

Drittfeiertach mal wieder. Wir machen unseren Osterspaziergang, mein Hund und ich.
Ich bin erschöpft vom vollen Leben. Auch gute Tage mit Menschen brauchen viel Kraft.
Es war so schön, dass sie da waren und ich ihnen einen Laubfrosch in meinen Händen zeigen konnte. Und ihr Lachen, als mir der Kleine auf die nackte Schulter hüpfte. Da blieb er sitzen, bis ich ihn an der Quelle ins Gras hinunter springen ließ. Danke.
Für meinen Hund ist Halbzeit der Borreliose-Therapie. Wenn sie hilft, sollte man es inzwischen merken, der Tierarzt möchte angerufen werden. Yalla springt noch immer nicht auf ihre Plätze, aber wenn ich sie mit Leberwurst locke und dränge, tut sie es, ohne zu jaulen. Vielleicht muss sie ihre Schmerzen erst wieder vergessen. Leberwurst hilft. Manchmal.

Ich möchte wieder richtig arbeiten können. Mich trauen, nach den Dingen zu greifen, die unter den Tagen liegen. Noch zucke ich davor zurück. 

Kann man auf etwas neidisch ein, das man gar nicht haben will?
Vielleicht  - wenn die Kraft zum Wünschen fehlt.

 

24.4.2019

 

Wie konnte ich eine halbe Stunde verlieren, in der ich meine Vorbereitungen im Fünf-Minuten-Takt kontrolliert habe?!? Ich stehe unter Schock neben dem Loch.
Ich suche nach einem Gedanken gegen die Angst. Die Angst vor den Löchern im Kopf, mit denen ich – wie sie sagen – leben muss. Die Angst ist schlimmer als es jedes Loch sein kann. Ein Loch bleibt ein Loch, aber die Angst zieht Kreise wie die Wanderröte um einen Zeckenbiss. Abgewöhnen will ich sie mir!

Ich suche einen Gedanken gegen die Angst: Wenn sie mich anspringt, will ich mir eine Situation vorstellen, in der Freude war, und danke!  Sagen.  Da kann mir viel einfallen, die Vögel sind es zuallererst. Aber auch der Laubfrosch. Ich habe so viel zu sehen, zu hören, zu spüren gelernt, das ganze Land um mich herum, in dem ich leben darf. Meine Dankbarkeit soll Angst vertreiben. Oder kann man zwei so gegensätzliche Gefühle  gleichzeitig haben? 
Die Dinge, für die wir dankbar sind, vermehren sich ausnahmslos in unserem Leben.
Dieser Satz ist mir im Mai vor zehn Jahren geschenkt worden. Wo war er so lange? Er sollte doch neue Räume öffnen. Wie konnte ich ihn vergessen?!?
Ich habe einen Satz angestrichen: Hast du ein Ziel, das sich lohnt? – Was fällt mir da ein? Die Wiese! Selbstverständlich.
Warum denke ich nicht an mein Textprojekt? 

Das Dompfaffenpärchen ist wieder da!

 

zwischen dem Morgen- und dem Abendrot
pausenlose Lebendigkeit
nach dem An- und Abschwellen
der Stimmen
am Abend
Stille

25.4.2019

Ich gehe herum und gieße, gieße, gieße. Sonne und Wind Jetzt habe ich eine Konstruktion an der Tauchpumpe, mit der ich das Wasser aus dem Bach bekommen kann, wenn die inzwischen dicht gewachsenen Pflanzen herausgeholt sind. Wer kann das für mich machen? Oder steige ich selbst noch einmal hinein? Kann ich das schaffen? Warm genug ist es. Es blüht schon der Flieder. Es ist Sommer im April. Der warme Wind auf der Haut kann nicht lügen.
So kann ich nicht anders und habe trotz aller Warnungen – nie vor den Eisheiligen! – meine Tomaten eingesetzt.
Ob das noch passt mit den Eisheiligen? Dieser Sommer soll wieder so heiß werden wie es der letzte war – wenn nicht noch heißer – höre ich in den Nachrichten im Auto auf dem Weg zu Frühstück mit den Freunden. Meiner Freundin ist vor einem Jahr eine Brust abgenommen worden. Sie sagt in jeder Pause und bei jeder Gelegenheit fröhlich: Mir geht es gut! Ich Miesepeter frage mich: Warum muss sie das immerzu sagen?
Weil sie so oft danach gefragt wird? Ihre Familie ist so groß, dass ich die Verwandtschaft, die ich kenne, auf dem smartphone-Display gar nicht erkennen kann, weil es so viele winzige Gesichter sind. Aus Amerika, aus Bethlehem, aus Köln… Und meine Freundin mittendrin.
Als sie mich dann fragt, wie es mir jetzt so geht, fange ich an zu erzählen: von Yallas Borreliose, von den Vögeln und von meiner Wiese, inshallah. Weiß nicht, was ich noch alles erzählt habe, als meine Freundin sehr entschieden sagt: Ich könnte das nicht. So allein leben. So ganz allein. Nein, ich könnte das nicht.
Du musst es ja auch nicht, sag ich und gebe die Kurzfassung, die ich inzwischen bereit halte, weil mir die Frage immer wieder gestellt wird: Wie machst du das nur? 

Also: Ich hab das Alleinsein früh gelernt, das kommt mir jetzt zugute. Mein Vater hat nicht mehr gesprochen, als er aus dem Krieg kam, meine Mutter war im Geschäft, Geschwister habe ich nicht. Nur in den Sommerferien schlief ich nicht allein. Vor Menschen hatte ich Angst. Habe erst langsam gelernt, mit ihnen zu sprechen.
Draußen bei mir, wo keiner lebt, allein, da bin ich nicht einsam. Es ist gut, dass du da bist!
Das hätte ich mir auch nicht  träumen lassen. Danke.

Meine Glocke läutet, der Hund schlägt an. Die Schornsteinfegerin mit den blond-rosa gefärbten Haaren kommt, um auf mein Dach zu steigen. 

Gleichzeitig
mit einer leisen Vogelstimme
verklingt der letzte Glockenton
um neun Uhr
ist der Tag zu Ende