Einleitung
2. Der alte und der neue Mensch
»Der Expressionismus war nicht die neue Form, sondern auch Ausdruck einer Verzweiflung Ungläubiger, die ratlos geduckt sich den Tag des Gerichts im Toben ihrer subjektiven Empfindungen zu übertäuben suchten. Versprengt in vielen, wie Keim einer neuen Seele eines neuen Menschen, leuchtet Hoffnung auf bessere Zukunft.«1 Kulturkritischer Skeptizismus gegenüber der Gegenwart und die zukunftsgerichtete Suche nach ihrer Überwindung aus dem »Geist der Utopie« (Bloch, s. Dok. 36 und 62) konstituieren in ihrem antithetischen Nebeneinander die Denk‑ und Stilformen der expressionistischen Bewegung. Mit der sie leitenden Idee des »Neuen Menschen« und »Neuen Lebens«2 knüpft sie zwar an klassisch‑idealistische Bewußtseinstraditionen an, die hierin ihrerseits über den Pietismus des 18. Jahrhunderts christlich‑religiös vermittelt sind.3 Doch hat das auf die Synthetisierung von Gegensätzen ausgerichtete Denken um 1800 im Kontext der Französischen Revolution antirevolutionär‑reformerische Implikationen4, denen gegenüber sich das expressionistische Pathos geistiger Erneuerung zu revolutionärem Anspruch radikalisiert. Zwei nicht mehr »dialektisch« zu vermittelnde Welten stehen sich im Vorstellungshorizont der literarischen Intelligenz antithetisch gegenüber5: absolut negativ gewertet die gegenwärtige alte der Wilhelminischen Patriarchalgesellschaft, in der ein traditionsgeprägtes soziales und kulturelles System sich mit wissenschaftlichem, technischem und ökonomischem Fortschritt verbindet; absolut positiv dagegen die in vagen Visionen beschriebene neue Welt, in der die einzelnen Menschen in zwanglosem Miteinander ihre Bedürfnisse ausleben und ihr »eigentliches Selbst« verwirklichen.
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