II.1.1 Editionsphilologie

Leseprobe

Von Rüdiger Nutt-KofothRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rüdiger Nutt-Kofoth

1.1 Editionsphilologie

Überblick

Historisch-kulturelle Grundlagen, semiotische Bedingungen

Mit der Erfindung von Schrift vor über 5000 Jahren stand dem Menschen ein Notationssystem zur Verfügung, um sprachliche Äußerungen zu fixieren. Damit konnte erreicht werden, was durch mündliche Weitergabe nur ungenügend gelingen kann: die konsistente Bewahrung der sprachlichen Äußerung durch sie repräsentierende Zeichen. Diese wurden seitdem mit unterschiedlichstem Schreibmaterial (z. B. Meißel, Griffel, Feder und Tinte, mechanische und elektronische Schreibmaschinen) auf unterschiedlichste Beschreibstoffe (z. B. Stein, Papyrus, Papier, Computerfestplatten) ein- bzw. aufgebracht. Die Aufzeichnung der sprachlichen Äußerung ermöglichte die Konservierung dieser Äußerung. Indem sie bewahrt wurde, konnte sie unverändert über lange Zeit an räumlich und zeitlich Entfernte weitergegeben werden. Die Existenz der sprachlichen Äußerung war nicht mehr von ihrem Verfasser oder von Nachsprechenden (durch mündliche Memoriertechnik) abhängig, sondern allein von der Haltbarkeit der Stoffe, in die und durch die sie fixiert wurde, also von der Materialität.

Dagegen kam dem Menschen nach dem Niederlegen der Zeichen nun eine neue Aufgabe zu: Anstelle der Wiederholung der sprachlichen Äußerung selbst mussten jetzt die Objekte, auf die die Zeichen gebannt waren, die Schriftträger, bewahrt werden. Zur Aufgabe dieser Bewahrung gehört nicht nur das Aufbewahren, sondern auch die Verbreitung. Weil das die Zeichen tragende Material vergänglich ist, vor allem aber weil sich die Sprachäußerung auf Material transportieren lässt, sind Kopien (etwa durch Abschreiben von Handschriften oder – nach der Gutenberg’schen Medienrevolution – durch maschinelle Vervielfältigung beim Druck) das Mittel, die sprachliche Äußerung über die Zeiten zu erhalten und immer wieder neu zugänglich zu machen. Insofern lässt die Schrift im Zusammenhang mit ihrer notwendigen Materialisierung einen spezifischen Grundzug der menschlichen Kultur entstehen: die Erzeugung von Tradition durch Textpflege. Die Erhaltung und Bewahrung bestimmter Texte führt zu einem Kanon wichtiger Texte, die einen Teil der Kultur einer menschlichen Gemeinschaft begründen. Die Überlieferung und Pflege älterer Texte erhält dadurch eine wichtige Funktion: Sie dient der gemeinsamen Erinnerung, die eine Gemeinschaft prägt, ist Teil der Memorialkultur einer Gesellschaft und konstituiert damit deren kulturelles Gedächtnis entscheidend mit (vgl. I.1.2 und II.4.1).

Die Abkoppelung der sprachlichen Äußerung vom menschlichen Sprecher durch deren Aufzeichnung musste freilich erkauft werden durch die spezifische Bedingung von Schrift, nämlich die Codierung von Sprachlauten durch visuelle Zeichen. Die konkrete Sprecher-Hörer-Beziehung ist zwar gleichfalls durch die Trennung von Zeichen (Signifikant) und Bedeutung (Signifikat) geprägt, doch gibt es im Falle der schriftlichen Sprachäußerung für den nunmehrigen Leser keine Möglichkeit einer Rückversicherung des Gemeinten beim Sprecher mehr. Stattdessen wird nun der geschriebene Text, werden die materialisierten Zeichen zum Ausgangspunkt der Bedeutungsgenerierung durch den Leser. Der geschriebene Text wird durch Decodierung der Zeichen entschlüsselt und diese Entschlüsselung gelingt dem Leser nach Maßgabe seiner Kenntnisse des Zeichencodes und der zugehörigen Kontexte. Auf dieser Basis erfolgt das Verständnis des Textes, die Zumessung einer Bedeutung zum Geschriebenen als Interpretation des Lesers.

An solche Zusammenhänge gebundene Stichwörter wie ›Überlieferung‹, ›Textpflege‹, ›Interpretation‹ sind diejenigen, die auch für den wissenschaftlichen Umgang mit Texten kennzeichnend sind. Inso fern hat die wissenschaftliche Herausgabe (Edition; von lat. editio) von Texten Teil an den Grundbedingungen und den Grundproblemen der Weitergabe von schriftlichen Sprachäußerungen. Doch steht sie diesen Bedingungen und Problemen in einer doppelten Funktion gegenüber. Zum einen ist sie durch die erneute Textherausgabe selbst ein Element innerhalb der historischen Reihe von Textweiter- und -wiedergaben, zum anderen ist sie das Instrument einer objektivierten bzw. intersubjektiv begründeten Metabeschreibung der historischen Textüberlieferung. [...]

Leseprobe aus  dem Handbuch Literaturwissenschaft. Sie können den Handbuch-Artikel nach Anklicken der Zeile „Leserbrief schreiben“ rechts unten auf dieser Seite kommentieren.