II.2.4 Versanalyse

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2.4 Versanalyse

Die Analyse eines als ›Vers‹ klassifizierten Textabschnitts besteht in der Rekonstruktion einer bestimmten sprachlichen Form, in der sich der Text präsentiert. Das zentrale Formmerkmal, aufgrund dessen ein Vers akustisch als solcher erkannt wird, ist in der Regel ein bestimmtes metrisches Schema, d. h. eine festgelegte Silbenzahl und/oder eine festgelegte Anordnung akzentfähiger Silben (sog. Tonstellen oder Hebungen) und manchmal von Wort- und Kolongrenzen (Zäsuren). Oft treten Homöophonien (›Gleichklänge‹: z. B. Reim, Assonanz, Alliteration) hinzu, die mehrere Verse oder Halbverse zu größeren Gebilden (Couplet, Strophe, Stollen, Aufgesang/Abgesang usw.) zusammenschließen können (vgl. Breuer 1981/99, 42–66). In seltenen Fällen kann auch der parallelismus membrorum (die Gleichordnung der Satzglieder) versbildend wirken (vgl. Küper 1988, 50 ff.). In modernen Verstexten, die auf eine metrische Regulierung der Verse, auf homöophonische und syntaktische Bindung mitunter ganz verzichten, ist die Einheit des Verses in erster Linie optisch markiert durch künstliche Zeilenumbrüche (vgl. Donat 2006, 17–22).

In Versen geschriebenen Text nennt man auch ›gebundene Sprache‹. Denn die verskonstituierenden Merkmale ›binden‹ einzelne Textabschnitte zu memorierbaren und somit besser tradierbaren Einheiten zusammen und erfüllen auf diese Weise auch eine mnemotechnische und quasimediale Funktion. Gebundene Sprache ist deshalb ursprünglich, d. h. in Kulturen mit mündlicher Tradition, ein generelles Merkmal von Dichtung (und anderer tradierwürdiger sprachlicher Vergegenständlichungen), unabhängig von der Gattung. Sie kennzeichnet die frühe Lied- und Spruchdichtung ebenso wie die seit der Antike übliche Form der hohen Tragödie; und auch narrative Dichtungen sind – vor dem Aufstieg des Prosaromans in der Folge des Buchdrucks – in der Regel versifiziert. In Schriftkulturen hat die Versifikation ihre mnemotechnische Funktion weitgehend eingebüßt und sich zum Kunstkriterium vor allem der lyrischen und dramatischen Formen gewandelt. Je mehr aber die Versform sich von der Funktion eines reinen Trägermediums emanzipiert und zum Kriterium des Künstlerischen wird, desto mehr ist sie als Teil der dichterischen Aussage zu verstehen und als solche eigens zu analysieren.

Grundlagen

Das Basiselement eines metrischen Schemas ist der Versfuß (vgl. März 2003b, 767). In der deutschen Literatur kommt man in der Regel mit den Versfüßen Jambus, Trochäus, Anapäst, Daktylus und Spondeus aus. Die festgelegte Abfolge bestimmter Versfüße innerhalb einer Verszeile nennt man Versmaß. Man unterscheidet isometrische und heterometrische Versmaße, je nachdem, ob ein Vers aus gleichartigen oder unterschiedlichen Versfüßen zusammengesetzt ist, und entsprechend isometrische und heterometrische Strophenmaße, je nachdem, ob eine Strophe aus gleichartigen oder unterschiedlichen Versmaßen aufgebaut ist. Jambische und trochäische Versmaße nennt man alternierend. Die wichtigsten Reimformen im Deutschen sind der Stabreim (Alliteration an Tonstellen) und die Endreimmuster ›Paarreim‹ (aabb), ›umarmender Reim‹ (abba), ›Kreuzreim‹ (abab) und ›Schweifreim‹ (aabccb). Außerdem werden verschiedene Grade des Gleichklangs (reiner/unreiner Reim, armer/ reicher Reim etc.) abgestuft, deren Güte historisch oft unterschiedlich eingeschätzt wurde; z. B. genießen ehemals als Fehler geltende Reimarten (z. B. stark unreine Reime wie »erhält«/»fehlt« oder unebne Reime wie »Hàrald Schmídt«/»Fáhrrad mìt«) in der neueren deutschen Popmusik einiges Prestige.

Die metrische Analyse kennt unterschiedliche Notationssysteme, die je nach Textmaterial und Beschreibungsabsicht anders gewählt werden können. Die Basis aller metrischen Analysen bildet die Silbenakzentnotation, die für jede Silbe ein »×« setzt und die Akzente vermerkt. Es empfiehlt sich, mit den Wortakzenten mehrsilbiger Wörter zu beginnen, da der syntaktische Akzent meist weniger eindeutig ermittelbar bzw. je nach Versmaß flexibel anzupassen ist: […]

Leseprobe aus  dem Handbuch Literaturwissenschaft. Sie können den Handbuch-Artikel nach Anklicken der Zeile „Leserbrief schreiben“ rechts unten auf dieser Seite kommentieren.