Europäische Gesellschaft
Zeit-Echo 3 (1917), 1. und 2. Maiheft, S. 6-9.
Von Ludwig Rubiner
Wir leben noch.
Es ist kein Stolz, kein Ruhm, keine Ehre. Auch dies nicht, daß uns nichts anderes übrig bliebe. Sondern es ist unsere letzte Selbstverständlichkeit. Unsere erste Forderung.
Es gab die langen Zeiten, denen der wissende Gang zum Tode Märtyrertum war. Es kann eine Frage sein, ob Märtyrertum heute noch den Wert des Wirkens hat. Aber die Zusammenballung zum Leben, der unaufhörliche Widerstand gegen das Vergleiten in willenlosen Tod, der alltägliche Gang auf dem schmalsten Grat des Lebens, die einfache Bewahrung des Lebenbleibens, das ist das Märtyrertum dieser Zeit. Wir legen Zeugnis ab für das Leben. Und selbst wenn wir umstellt und niedergemacht werden: unser Wille wird weit in die Jahrhunderte greifen, unvergeßbar.
Unsere Brüder zum Leben sind da. In allen Ländern wissen wir sie. Niedergeschrien, mundtot, scheu gemacht von künstlich aufgeblähten Majoritäten, deren Massengeschrei schlau verstärkt wird durch die amtlichen Schallrohre der Informations-Schlagworte. [324]
Unsere Brüder vom Leben sind da, man umstellt sie mit stacheldrähtigen Nationalwänden, man schlägt ihnen die Augen blind wie gemarterten Pferden, aber dennoch wissen sie von uns. Und sie sind jederzeit bereit, uns die Hand zu drücken.
Es kommt einzig darauf an, daß niemand von uns den Mut sinken läßt. Es kommt darauf an, jederzeit eingedenk zu bleiben, wie viele der Geistesbrüder in allen Ländern da sind und aufeinander warten. Es kommt darauf an, manchen Versprengten Mut zu machen, Mut zum Widerstand, und ihnen zu zeigen, daß sie nicht allein sind.
Wir werden nicht warten, bis die Wissenden dieser Zeit alle tot sind und eine neue Generation erwachsen, die der Kriegsdinge von Kindheit auf gewohnt ist! Das Einzige, das Geringste und das Schwerste, was uns auferlegt sein muß, ist, aus diesem Kriege hervor, durch ihn hindurch den Menschen zu retten.
Es wird nicht sein, daß das Geistige – welches allein den Menschen formt unter allen Wesen der Erde –, daß die göttliche Würde des Menschen überkarrt werde von den Rädern der Kriegsmaschinen. Das wird nicht sein. Aber wir alle, die wir wissen, daß dies nicht sein wird, die wir wissen, daß unser Ziel ist, den Menschen für den Menschen zu bewahren, uns darf das bloße, heimliche Wissen nicht mehr genügen. Wir müssen es laut aussprechen!
Man kennt die Formel einer vorgegangenen Künstlerepoche, die Forderung l’art pour l’art, die Kunst für die Kunst.
Aber unser neuer Ruf für die kommende Zeit über alle Länder hinweg ist die Forderung: L’homme pour l’homme, der Mensch für den Menschen!
Die vergangenen Jahrhunderte sahen drei Epochen, in denen man versuchte, die Grenzen der Völker geistig zum Verschwinden zu bringen:
Das Weltbürgertum, den Kosmopolitismus, den Internationalismus.
Das Weltbürgertum war eine Sache der persönlichen Einsicht. Der Versuch, den Angehörigen derselben geistigen Klasse des fremden Landes als gleichberechtigt zu erkennen.
Der Kosmopolitismus war schon eine Sache der aktiven Bemühung. Der Versuch, sich im fremden Land durch Angehörigkeit zu einer bestimmten Klasse als gleichberechtigt erkennen zu lassen.
Der Internationalismus war die höhere Einheit seiner beiden Vorgänger. Er war endlich die bloße Technik, Weltbürger und Kosmopolit zu sein.
Aber diese drei grenzüberschreitenden Zustände sind jeder doch nur Konstatierungen einer subjektiven Einzelsituation. Sie verpflichten zu nichts. Sie sind Mitteilungen, aber keine Forderungen. Wie innerlich leer, relativ bedingt, ungeistig materiell und nicht bindend die letzte, nächste Phase, der Internationalismus, ist, sieht man aus der bekannten Tatsache, daß gerade die nationalistischen Führer aller Länder miteinander befreundet, verwandt, Ehrenregimentskameraden, also mit einem Wort so international verbunden sind, wie sonst nur das Kapital. Wie müssen die unter Tränen kichern! Der Internationalismus hat uns nicht geholfen, nicht einmal zur Aufrechterhaltung des Internationalismus.
Dennoch ist das Erste, Dringendste die Verbindung der Menschen eines Volkes mit denen des andern, unabhängig von den Grenzen und der Aktualität des Krieges. Und welche ist die Forderung, wenn selbst der Internationalismus versagt hat? [325]
Die Forderung der neuen Zeit heißt: Erdballgesinnung! Es handelt sich um nichts anderes, als daß im Moment des Kriegsendes die Übervölkischen, die Panhumanisten, die Menschgesinnten auf der Erde zusammenstehen. Die Geistigen. Hier aber kommt es auf die Reinheit an. Diese Armee wird niemals durch die bloße Zahl siegen – weder durch die Wucht einer Übermasse, noch durch das Mysterioso der Minorität –, sie wird allein durch die ewige Sprengwirkung der unzweideutigen, öffentlichen Gesinnung der Menschen helfen können.
Wer ist unser nächster Freund? Der wahrhaft Geistige. Der Mensch, welcher ohne Veranlassung durch natürliche Familieninteressen, Geburtsbande, Geschäftsangelegen-heiten: nur durch seine Überzeugung, durch seinen Entschluß und seine Entscheidung die Menschen der andern Länder für seine Brüder hält.
Mit ihm im Bunde, mit dem Reinen, werden wir die Gesinnung des neuen Zeitalters nach dem Kriege heraufführen.
Zu welcher Zeit, wenn nicht jetzt, hatte das Wort Europa seinen tiefsten, aufwühlend nachhallendsten Klang! Niemals schwangen so hellste Erdparadiesbilder in den Wünschen der Menschen, die an Europa dachten. Vielleicht war erst heute, nach der Krisis, Europa möglich. Vielleicht schreitet erst heute – in allzugroßem Inkognito noch – der Europäer vor uns her.
Wir Europäer wissen, mehr als andere, daß die Forderung »Europa« die geringste von allen ist. Wir wissen, daß Europäismus ein Zustand ist, der nur die allererste Voraussetzung und selbstverständlich ist für ein Bewußtsein von der Rundung des Erdballs, auf dem überall fühlende, denkende, sprechende Menschen leben.
Und ist das etwa neu? Ist das etwa nur ein weltgeschichtliches Apercu? Ist das ein Trick von Modeköpfen? – (Wie man es in der Idiotenpresse lesen kann!)
Nein, es ist nur so unendlich selbstverständlich! Es kommt nicht darauf an, daß diese drängendste aller geistigen Notwendigkeiten auch Ahnen habe. Aber käme es nur auf Stammbaum an? O, wir Europäer haben auch das, eine Vorläuferschaft der Edelsten unter den Aktiven zweier Jahrhunderte. Der Schweizer Muralt, der um 1700 das Denken der Schweiz mit seinen Briefen aus England europäisierte. Rousseau, der zwei Jahrhundertdrittel später Europa selbst zur Besinnung rief. Der deutsche Anacharsis Cloots, der inmitten der französischen Revolution den europäischen Gottesstaat durch Frankreich verwirklichen wollte. Schweigen wir von den großen ringenden Denkern des neunzehnten Jahrhunderts, die noch in aller Gedächtnis sind. Nur er noch sei erwähnt, der selbst den Versuch anstellte, die europäische Idee in vollster Realität zu verwirklichen: Mazzini, unter dessen Auge von Genf aus das Junge Italien, das Junge Deutschland, das Junge Frankreich entstand, und 1834 das Junge Europa. Mißglückte Handstreiche waren das, mißglückte Welten, zu früh geborene Ideenstaaten, aber von denen, trotz der endlichen Verjournalisierung eines kleinen Haufens der Mitläufer, ungeheure Energiekräfte zu den Bewegungen der vierziger Jahre strahlten. Es war zu früh. Auch der sozialistische Europäismus Mazzinis verlief zuletzt in einen modernen Nationalismus.
Aber heute ist es nicht mehr zu früh. Das Erfühlen Europas, das liebende Zusammenhangswissen mit diesem zerhungerten, zerhackten, zerbluteten Erdland ist heute bis in die starrsten [326] Bürgerherzen gedrungen. Nichts ist schlimmer, als daß es erst einer überirdisch-unterirdischen Riesenfleischermaschine bedurfte, um die Herzen der Menschen für die europäische Idee zu erschüttern. Doch obwohl der letzte Antrieb Abscheu vor dieser Zeit ist: Wert und heilig ist uns, daß Europa sich durchsetzte.
Der letzte, unabweisbare Augenblick ist da, nichts brennt stärker auf unserer Haut. Wir alle sind bereit. Alle sind bereit. Trennen wir uns nicht mehr. Im Wissen, daß wir nach der höchsten Todesgefahr da sind für
Erstdruck und Vorlage für diese Veröffentlichung: [Ludwig Rubiner]: Europäische Gesellschaft. In: Zeit-Echo 3 (1917), 1. und 2. Maiheft, S. 6-9.
Dies ist einer der Beiträge aus dem ersten Doppelheft des 3. Jgs. des Zeit-Echo, die alle der neue Herausgeber Ludwig Rubiner schrieb. Er gab der jetzt in der Schweiz erscheinenden Zeitschrift ein neues, entschieden pazifistisches und übernational-europäisches Profil.
Anmerkung: Die Veröffentlichung des Dokuments und des Kommentars basiert auf: Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910-1920. Herausgegeben von Thomas Anz und Michael Stark. Stuttgart: Metzler 1982. S. 323-326.