Die Entwilderung eines Deutschen
Hermann Kants Roman „Der Aufenthalt“
Von Marcel Reich-Ranicki
Der Ruf, dessen sich der Ost-Berliner Schriftsteller Hermann Kant in unseren Breiten erfreut, ist gut und schlecht zugleich. Einerseits und vor allem: Er, der die auch außerhalb der DDR sehr erfolgreichen Romane „Die Aula“ (1965) und „Das Impressum“ (1972) geschrieben hat, mag in mancherlei Hinsicht dubios sein, aber vom Geschlecht der Langweiler ist er nicht. Wie bitte? Ein zeitgenössischer deutscher Romancier und dennoch kein Langweiler? Ein Erzähler aus der DDR, der gleichwohl vom Nürnberger Trichter nichts wissen will? Ein hartnäckiger Anhänger und auch ein forscher Sprecher der SED und trotzdem ein Autor mit Witz und Humor? Auf jeden Fall haben wir es also mit einem eher ungewöhnlichen Mann zu tun, der, wie bedenklich er auch scheint, doch nicht ganz unsympathisch sein kann.
Andererseits: dieser agile Hermann Kant ist auch ein großer Schlaumeier und ein listiger Tausendsassa, ein Pfiffikus, der uns, so muß man immer wieder befürchten, übers Ohr hauen will. Sowohl in der „Aula“ als auch im „Impressum“ war er eifrig bemüht, sich seinen Lesern als ein kesser und kühner Einzelgänger zu präsentieren, als einer, der, allen bekannten Schwierigkeiten zum Trotz, die gebräuchlichen Parteischablonen verachtet und ein unkonventionelles, ja gelegentlich fast schon herausforderndes Bild des Lebens in der DDR zu zeichnen weiß.
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