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Weit über das Land

Roman

Von Peter Stamm

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Dennis Gerstenberger schrieb uns am 30.03.2017
Thema: Peter Stamm: Weit über das Land

Das alte Paradies

Peter Stamm schickt seinen Protagonisten in Weit über das Land auf eine Zeitreise

Von Dennis Gerstenberger

Bereits der erste Satz zeigt, wohin der Roman führen wird, in ihm finden sich tragende Substantive der gesamten Geschichte: „Tagsüber bemerkte man die Büsche kaum, die das Grundstück von jenen der Nachbarn trennten, sie gingen unter im allgemeinen Grün, aber wenn die Sonne sank und die Schatten länger wurden, war es, als wüchsen sie zu einer Mauer, die immer unüberwindbarer wurde, bis schließlich das letzte Licht aus dem Garten verschwunden war und die ganze quadratische Rasenfläche im Schatten lag, ein dunkles Verlies, aus dem es kein Entkommen mehr gab.“ Die meisten Substantive weisen auf die Natur, andere auf von Menschen gezogene Grenzlinien. Der Nachbar weist auf zwischenmenschliche Beziehung und das letzte Substantiv wird negiert. Aus dem dunklen, selbstgeschaffenen Verlies gibt es kein Entkommen.

Einer der beiden Protagonisten des Romans versucht es trotzdem. Die Eheleute Astrid und Thomas, die gerade mit ihren beiden Kindern aus dem zweiwöchigen Sommerurlaub aus Spanien zurückgekehrt sind in ihre Heimat Schweiz, führen ein sehr geregeltes und durchschnittliches Leben. Doch macht sich Thomas noch am selben Abend aus dem Staub, er geht einfach los, mit einem Lächeln, ohne seiner Frau etwas zu sagen. Es ist der Versuch einer Flucht aus den engen Grenzen seines bisherigen Lebens, aus dem selbstgemachten Verlies.

Der Roman fährt zweigleisig und beschreibt wechselweise, wie Thomas sich seinen Weg durch die Schweizer Landschaft bahnt und dabei Menschen möglichst aus dem Weg geht, um unerkannt zu bleiben. Dem gegenüber steht Astrids Suche nach Normalität und wie sie gleichzeitig versucht, ihren Ehemann zu finden und ihn fast erwischt; wie sie die Polizei einschaltet, die jedoch nicht wirklich helfen kann, weil ihr Mann schließlich nur weggelaufen ist und jeder erwachsene Mensch das Recht hat, sich aus dem Staub zu machen.

Man kann den Roman angreifen, weil er grundlegende Fragen ausklammert. Die Motive für Thomas' Verschwinden werden nicht genannt, sondern nur äußerst vage angedeutet. Auch Astrids Verhalten ist mehr als rätselhaft: sie weiß intuitiv sofort, dass es sich keinesfalls um ein Verbrechen handelt, sondern dass ihr Mann freiwillig gegangen ist. Außerdem arrangiert sie sich schon nach wenigen Tagen mit dem Fehlen ihres Mannes. Arbeiten geht sie weiterhin nicht, obwohl das Haus noch lange nicht abbezahlt ist. Und trotzdem lebt sie jahrelang darin, wie am Ende des Romans deutlich wird.

Der Roman deutet vieles nur an und lässt es in der Schwebe. Nichts wird psychologisiert, sondern nur aus großer Distanz aus einer anscheinend unbeteiligten Perspektive beschrieben. Ebenfalls ausgeklammert werden die zwischenmenschlichen Gefühle, obwohl sie den Grund für das spontane Verschwinden darstellen und damit den Kern des Romans ausmachen. Zu spüren ist nur noch die wechselseitige Wirkung bzw. Gravitationskraft der Protagonisten, der direkte Kontakt bleibt jedoch aus.

Handelt es sich demzufolge um einen Roman über die moderne Ellbogengesellschaft, in der jeder genau das macht, wonach ihm im Augenblick zumute ist? Ist es ein Roman über die Entzweiung einer Ehe? Ja und nein. Denn es gibt noch eine weitere Ebene, die sich hinter der Fassade des modernen Romans versteckt.

Im Hintergrund nämlich steht der Rückgriff auf die Romantik. Die Ähnlichkeit mit dem Plot von Aus dem Leben eines Taugenichts ist nicht zu übersehen: auch in Eichendorffs Werk macht sich ein junger Mann auf die Suche nach seinem Glück, wandert durch die Lande und kehrt am Ende zu seinem Schloss zurück. Oder die Ähnlichkeit mit dem Goldnen Topf von E.T.A. Hoffmann, in dem die entscheidende Szene an einem Holunderbaum geschieht, weil Anselmus dort den ersten Kontakt zum Schattenreich hat, das ihn schon bald völlig einnimmt. Thomas hängt seine im Bach gewaschene Wäsche nicht über einen Baum, aber über einen Holunderbusch. Seine rationale Welt lässt er mit seiner Flucht hinter sich, stattdessen begibt er sich auf die emotional gesteuerte Suche nach seinem Glück, er strebt nach etwas anderem, ihm noch unbekannten, das einer gewisser Poetik nicht entbehrt.

Auch das Motiv des Doppelgängers wird aufgegriffen: Im Goldnen Topf scheint Anselmus zu sterben. Thomas könnte eine Woche nach seinem Weggehen beim Sturz in eine Gletscherspalte gestorben sein, zumindest bietet sich diese Interpretation an. Das weitere Geschehen wäre demzufolge genauso fantastisch wie das romantische Vorbild. Thomas' lange Abwesenheit erinnert an Hebels Erzählung Unverhofftes Wiedersehen, in der der verlorengegangene Bergmann nach Jahrzehnten wieder auftaucht.

Die romantischen Motive der Wanderschaft, Weltflucht, des Fernwehs sind genauso zu finden wie das Streben nach der eigenen individuellen Verwirklichung, nach Gefühl und Leidenschaft. Selbst die für die Romantiker so wichtige Blaue Blume kann Thomas auf seiner Wanderung finden: er beobachtet die Natur und sieht einige Blumen, darunter auch den Storchenschnabel, der eine leuchtend blaue Blüte haben kann.

Es handelt sich nicht um eine realistische Darstellung der Normalität, des Alltags, sondern wendet sich gerade davon ab. Die vielen Anspielungen werfen ein neues Licht auf den Roman, weil sie den Raum zur Phantastik öffnen und auf die Romantik verweisen. Die Erklärungslücken werden in den Hintergrund gedrängt, sie werden nebensächlich, stattdessen eröffnet die Romantik neue Perspektiven und Interpretationsmöglichkeiten.

Peter Stamm ist ein lakonischer und leise erzählter Roman gelungen, der preiswürdig ist und mit seinen (intertextuellen) Anspielungen viel Stoff zum Nachdenken bietet – nur muss man ihn genau lesen. Sonst überliest man schnell, dass Thomas am Anfang mehr als 300 Franken im Portemonnaie hatte und nach einigen Stunden im Bordell nicht mehr genug Bargeld, um zwei Bier zu zahlen. Eine Stunde mit einer Frau kostet 300. Wohin mögen die vielen Franken wohl geraten sein?

Peter Stamm: Weit über das Land. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2016.
222 Seiten, 19,99 EUR
ISBN 9783100022271

Aufrufe: 435




Bories vom Berg schrieb uns am 07.04.2022
Thema: Peter Stamm: Weit über das Land

Warum nicht?

Auch in dem Roman «Weit über das Land» greift der Schweizer Schriftsteller Peter Stamm erneut seine Thematik des spontanen Ausbruchs aus der Normalität des Alltags auf. Anders aber als in der inflationären Aussteiger-Literatur geht es bei ihm nicht um den Traum von der einsamen Südseeinsel oder der Holzhütte in Alaska, seine Helden entfliehen dem Alltagstrott und dem sozialen Geflecht, in dem sie sich gefangen fühlen. Es geht also nicht um ein Paradies an fernen Horizonten, der Autor widmet sich vielmehr der Frage, ob ein einmal eingeschlagener Lebensweg mit all den gesellschaftlich als erstrebenswert angesehenen Ausformungen letztendlich wirklich das ist, was zählt im Leben, was der menschlichen Existenz einen Sinn zu geben vermag. Ein hochinteressantes Thema also, dem literarisch beizukommen jedoch äußerst schwierig ist.

Nach der Rückkehr von einer Urlaubsreise mit den Kindern, die Koffer sind noch nicht ausgepackt, sitzt Thomas auf der Holzbank vor dem Haus und trinkt mit seiner Frau ein Glas Wein auf den schönen Urlaub. Nachdem Astrid ins Haus gegangen ist, erhebt sich Thomas, läuft durch den Garten, öffnet leise das Tor und spaziert die Straße entlang Richtung Dorfausgang, - und er kommt nicht mehr wieder. Aus wechselnder Perspektive von Thomas oder Astrid erzählt Stamm stimmig und nachvollziehbar von den ersten Stunden, Tagen, schließlich Wochen und Monaten dieses wortlosen Verschwindens. Es gab keinen Streit, man führt ein gutbürgerliches Leben ohne finanzielle Sorgen, die beiden Kinder sind wohlgeraten und absolvieren ihre Schule ohne Probleme. Astrid informiert nach einigen Tagen vergeblichen Wartens die Polizei, und tatsächlich gibt es ein Lebenszeichen von Thomas, er hat Geld abgehoben und mit seiner Bankkarte in einem Sportartikelladen eingekauft. Doch weder Astrid noch der Polizei gelingt es, diese Spur aufzunehmen und Thomas zu finden. Während die Frau sich erstaunlich gut und irgendwie auch recht gelassen in ihr neues Leben fügt, zieht der ehemalige Steuerberater wie ein fahrender Geselle «Weit über das Land», schläft im Wald oder findet Unterschlupf in Heuschobern und Almhütten. Als sein Geld schließlich verbraucht ist, verdingt er sich immer wieder mal für einige Zeit als Gelegenheitsarbeiter. Er bleibt uns, wahrscheinlich aber auch sich selbst, in seinen Motiven bis zum Schluss ein Rätsel, das zu klären der Autor nicht bereit ist, - oder vielleicht auch gar nicht imstande ist. «Das kann doch alles nicht wahr sein» ist immer wieder Astrids einziger Gedanke.

In lakonisch kurzen Sätzen ohne Ironie erzählt Stamm seine völlig unromantische Geschichte eines rigorosen Selbstfindungstrips. Wobei er das Innenleben seiner beiden Protagonisten, die hier so abrupt und endgültig auseinander gerissen werden, psychologisch feinfühlig auslotet und dabei ein dichtes Netz von Möglichkeiten aufzeigt. Realität und Imagination geraten zunehmend durcheinander, der Leser ist gefordert, sich im Labyrinth der angedeuteten Optionen zu bewegen und dabei all seine Intuition kreativ einzusetzen. Wo soll das hinführen, fragt man sich da immer wieder, während man der durchaus stimmigen und anschaulichen Schilderung des zunehmend zeitgerafft erzählten, weiteren Lebensweges der beiden Romanfiguren folgt.

Erschreckende Erkenntnis dieses ungewöhnlichen Ausbruchs aber dürfte dessen Folgenlosigkeit sein, der banale Alltag erweist sich als doppelbödig, die Realitätsebenen verschieben sich zu unplausiblen Traumbildern. Außerdem stellt sich ein gewisses Unbehagen ein, die Moral als Instanz spielt nämlich bei alledem überhaupt keine Rolle, dementsprechend werden die Charaktere als weitgehend emotionslos beschrieben. Während Thomas von der schieren Freude an die Zukunft beseelt ist, führt Astrid ein Doppelleben als angepasste Witwe und Mutter, während sie innerlich komplizenhaft zu Thomas steht, an dessen Tod sie partout nicht glauben will. Und der Frage nach dem «Warum» steht hier die Frage entgegen: «Warum nicht?»

Fazit: lesenswert
Meine Website: ortaia.de

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