Connie Ruoff schrieb uns am 31.01.2018
Thema: Robert Menasse: Die Hauptstadt
„DIE HAUPTSTADT“ VON ROBERT MENASSE
1. üZUM INHALT
Der Wiener Autor Robert Menasse erhielt 2017 den Deutschen Buchpreis. Mit diesem Preis zeichnet die Börsenverein des Deutschen Buchhandels Stiftung zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse den deutschsprachigen Roman des Jahres aus. „Die Hauptstadt“ war der Sieger.
Robert Menasse gibt uns in „Die Hauptstadt“ 235 mal die Buchstabenfolge SCHWEIN zu lesen. Dennoch geht es keineswegs um Tiere. Er zeichnet uns eher ein Psychogramm unserer Zeit. Er lässt die Geschichte in der fiktiven Welt der Europäischen Union spielen. Trotzdem läuft in Brüssel eine nicht identifiziertes namenloses Schwein durch die Straßen. Das Schwein als Metapher? Was will der Autor damit sagen?
Der Leser erfährt viel über chinesische Essgewohnheiten, den Mangel an Schweinsohren, Schweinehandel, den Dissens über einen Ausbau der Schweineproduktion, Stilllegungsprämien und die Haltung zu Tierschutz.
Die Verknüpfung der EU mit Auschwitz ist ungewöhnlich, aber nachvollziehbar. Es erinnert uns wieder an unsere Geschichte
Der Autor zeigt uns Episoden, die den Leser auf unsere zeitgenössischen Probleme hinweisen, mit denen wir kämpfen: BREXIT, Flüchtlinge, Euro Krise, wachsender Rechtspopulismus und Terrorismus.
In diesen Episoden hat der Autor einen Mordfall versteckt, der jedoch nur die Aufgabe hat, den Verschwörungstheoretiker im Leser zu wecken.
5/5 Punkten
2. PROTAGONISTEN
Robert Menasse hat seine Charaktere liebevoll gezeichnet. Sie haben eine vollständige Vita. Der Leser erfährt ihre Vergangenheit und welche Pläne sie für die Zukunft schmieden. Sie Alle suchen Anerkennung und Liebe – sie folgen „the Pursuit of happiness“!
Fenia Xenopoulou, eine Zypriotin ist äußerst ehrgeizig. Sie ist Kommissarin des Bereichs „Kultur“. Durch einflussreiche Kontakte versucht sie, ihre Versetzung zu erreichen.
Martin Susman, einer der Mitarbeiter des Fachbereichs Kultur, wird mit der Ideenfindung zur Jubiläumsveranstaltung beauftragt. Er besucht im Rahmen einer Dienstreise Birkenfeld und Auschwitz. Dort hat er das folgende Erlebnis.
„Zwei Jugendliche sprechen Türkisch. Ein Lehrer fordert sie auf, hier nicht Türkisch zu sprechen, einer antwortet: Genau hier sprechen wir nicht deutsch.“
Martin Susmans Vater war Schweinebauer. Sein Bruder Florian machte aus dem väterlichen Betrieb den größten Schweinemastbetrieb Europa und versucht in Brüssel auf Martin politischen Einfluss zu nehmen und seine Interessen durchzusetzen.
„Der Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil ist Susmans Lieblingsbuch. Was soll das über ihn aussagen?
Professor Alois Erhart, Emeritus der Volkswirtschaft, trauert seiner großen Liebe nach.
Eine sehr schöne Stelle im Buch: Eines morgens wandte er sich seiner Frau zu und „plötzlich in größter Erregung spürte er es: Ein Verschmelzen, in dem ihre Seelen sich berührten.“
Zwei Jahre später stirbt seine Frau.
Kommissar Brunfaut muss aus politischen Gründen, die Ermittlungen in einem Mordfall, niederlegen. Nicht einmal mehr die Akten des Falls sind auffindbar.
Der Leser lernt David de Vriend kennen, als er gerade seinen Hausstand auflöst, um in ein Altenheim zu ziehen. Robert Menasse zeigt uns, dass David de Vriend mit dem Fortschreiten der Demenz zu kämpfen hat. Er hat in seinem Zimmer ein Notizblatt, auf dem Namen der Menschen geschrieben sind, die er kennt oder kannte. Sobald einer dieser Menschen stirbt, streicht er den Namen durch. Auch sein Name steht darauf.
Es fällt ihm schwer, sich von seiner Vergangenheit zu lösen. Er floh als Kind vom Deportationszug, der seine Eltern in den Tod fuhr. Er ist einer der letzten Zeitzeugen.
Außerdem gibt es noch den Auftragskiller, der im Namen des Herrn tötet.
Sie alle sind die Schauspieler in „Die Hauptstadt“. Sie haben dem bürokratischen Moloch Europäische Kommission Leben eingehaucht.
5/5 Punkten
3. SPRACHLICHE GESTALTUNG
Robert Menasse zeigt hier einen für die Belletristik außergewöhnlichen Schreibstil. In einer dialektischen Erzählweise, oder einem Diskurs ähnlichen Stil, offenbart uns der Autor die Charaktere und die Themen des Romans.
Dadurch sieht der Leser nicht nur die Entscheidungen seiner Protagonisten, sondern auch, deren Beweggründe und die Abwägung derselben. Der Leser kommt dem vermeintlichen Menschen hinter den Figuren sehr nahe.
Termine für Lesungen von Robert Menasse.
5/5 Punkten
4. COVER UND ÄUSSERE ERSCHEINUNG
„Die Hauptstadt“ von Robert Menasse hat 459 Seiten, einen festen Einband und ist am 11.09.2017 unter der ISBN 9783518427583 bei Suhrkamp im Genre Romane erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 24,00 € und als ebook Text 20,99 €.
Das Cover ist weiß. Eine Häuserlinie ist angedeutet. Der Titel und der Autor werden durch das geradezu minimalistische Cover hervorgehoben. Auf die Fakten beschränkt!
5/5 Punkten
5. FAZIT
Robert Menasse hat den Focus auf europäisches Zeitgeschehen gerichtet. Er zeigt es uns, in Handlungen seiner Protagonisten oder Auswirkungen auf dieselben. Es ist ein wenig, wie Zeitung lesen. Es sind Meldungen aus dem Tagesgeschehen mit denen er uns an Dinge, wie das Widerstandrecht aus Artikel 20 Absatz 4, mit dem Motto „Resistance is possible“, erinnert. Die für das Buch erbrachte vierjährige Rechercheleistung ist unbeschreiblich.
Mit „Die Hauptstadt“ ist es dem Autor gelungen, durch seine teils ironische Blickweise, der Rieseninstitution „Europäische Kommission“ eine menschliche Seite zu verleihen.
Der Autor zeigt, dass er „Show it, Dont Tell it!“ absolut beherrscht. Das Buch ist eine Freude zu lesen.
@Suhrkamp und NetdalleyDE
Vielen Dank für das Rezensionsexemplar!
Ich vergebe insgesamt 5/5 Punkten.
Connie’s Schreibblogg https://schreibblogg.de
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Bories vom Berg schrieb uns am 07.03.2022
Thema: Robert Menasse: Die Hauptstadt
Brüssel oder Auschwitz
Neueste in der langen Reihe von Ehrungen für den österreichischen Schriftsteller Robert Menasse ist der ihm vor drei Tagen verliehene Preis der Frankfurter Buchmesse für den Roman «Die Hauptstadt». Er hat damit den weltweit ersten EU-Roman veröffentlicht, ein Panorama der europäischen Eliten, eine Farce aber auch über die Brüsseler Verhältnisse abseits der Blitzlichtgewitter und rituellen Statements von Spitzenpolitikern, wie man sie aus den Medien kennt. Der europa-politisch engagierte Autor, der sich schon vielfach in Essays und Traktaten mit der europäischen Idee beschäftigt hat, greift hier mit dem Moloch der Brüsseler Bürokratie ein literarisches Thema auf, das in dem schwierigen Fahrwasser, in dem sich die EU derzeit befindet, manchem allein von der guten Absicht her schon preiswürdig erscheinen mag.
«Da läuft ein Schwein». Mit dem ungewöhnlichen Rahmenmotiv eines durch Brüssel irrlichternden Borstenviehs, das im Roman immer wieder mal kurz auftaucht, beginnt Menasse seinen Prolog, sicherlich auch in Hinblick auf die allfälligen Konnotationen. Und wie man bald erfährt, stammt eine seiner Figuren von der EU-Kommission prompt aus dem agrarischen Milieu, sein Bruder betreibt einen Schweinemastbetrieb und ist als Lobbyist in Brüssel aktiv, um von dem gewaltigen Agrar-Etat der Gemeinschaft möglichst viel zu ergattern. Vergleichsweise winzig sind dagegen die Gelder, die Fenia Xenopoulou von der Generaldirektion Kultur zu Verfügung stehen. Sie hat den schwierigen Auftrag, das arg ramponierte Image der Kommission mit einer Feier zu ihrem fünfzigjährigen Bestehen aufzupolieren, - Musils «Parallelaktion» als literarisches Vorbild also! Und sie gewinnt Gefallen an der Idee, dafür Auschwitz heranzuziehen, den Fokus der Gemeinschaft also weg vom kleinteilig Ökonomischen auf das universal Moralische, auf das historische Grauen zu richten, das die Gründungsväter Europas mit ihrem Zusammenrücken ein für alle Mal politisch bannen wollten, nach dem Mot Nie wieder!
In diversen, fragmentarisch erzählten Handlungssträngen entwickelt Menasse das anschauliche Bild eines engen Geflechts von karrieregeilen Akteuren, die mit- und gegeneinander arbeitend in Think-Tanks nach kreativen Lösungen suchen für die geplante Feier, - oder sie, im Hintergrund und mit geschickten Winkelzügen, schnöde hintertreiben. Der nach außen hin erratische Block der Kommission wird hier zum lebendigen Organismus europäischer Eliten, in dem der Einzelne als das berühmte Rädchen im Getriebe fungiert, sich damit für ein großes Ganzes engagierend. Das im Roman verwendete Insider-Kauderwelsch ist allerdings sehr gewöhnungsbedürftig für den Leser, und die vielen fremdsprachigen Textschnipsel sind ebenfalls nicht gerade leserfreundlich.
Der Plot ist mit einem Mordfall angereichert, dessen spurlose Tilgung aus allen Akten und Datenbanken auf die große Politik hinweist, die Nato ist im Spiel, und da ist alles möglich, es gibt schließlich ja auch noch eine supranationale, vatikanische Killertruppe. Eine der Figuren kommt bei dem Attentat im U-Bahnhof Maelbeek (sic!) ums Leben, und der emeritierte Professor aus einer Nazi-Familie fordert gar in seiner Einführungsrede die Gründung einer neuen europäischen Hauptstadt auf dem Boden von Auschwitz als symbolträchtigem Standort. Das Schwein aber erscheint plötzlich als Hirngespinst einiger überspannter Bewohner Brüssels, das Boulevardblatt lässt ihre hysterisch aufgeblähte Serie daraufhin sang und klanglos in der Versenkung verschwinden. Menasse erzählt seine vielschichtige, zuweilen tief in die Vergangenheit zurückgreifende, turbulente Geschichte durchaus ironisch, er verbindet dabei gekonnt ziemlich disparate Themen miteinander, wobei mir seine überwiegend männlichen Figuren jedoch arg überzeichnet vorkommen. Der große Wurf ist dieser Roman literarisch bestimmt nicht, Buchpreis hin oder her, aber er erweitert den Horizont und ist zudem unterhaltsam, mithin also durchaus bestsellertauglich.
Fazit: lesenswert
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