Die Moral hat sich ihres Stachels beraubt

Tobias Blanke über das Böse in der politischen Theorie

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

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Das Böse gehört zu den philosophischen Grundbegriffen, aber es spielt auch in der Theologie, in der Esoterik und nicht zuletzt in der Politik eine große Rolle. Der Verfasser Tobias Blanke, wissenschaftlicher Mitarbeiter im "Arts and Humanities Data Service" des King's College, London, untersucht in seiner als Dissertation eingereichten Schrift den Einfluss des Bösen auf die Ideen des Politischen. Dabei setzt er sich vor allem mit Hegel, Kant und anderen Philosophen auseinander, die die Debatte über das Böse in der Geschichte geprägt haben,

Eine einfache Lösung für das Problem des Bösen hat bekanntlich der gegenwärtige US-Präsident George W. Bush parat. Für ihn, aber auch für manch anderen Staatsmann, sind die Bösen immer die Anderen, die Terroristen. Sie selbst jedoch sind Demokraten und daher gut. Dieser Formel: "Wir die Guten, die anderen die Bösen" widerspricht der Autor vehement und macht deutlich, dass nicht von ungefähr am Anfang der politischen Wissenschaft der Neuzeit der Zweifel an der Menschennatur steht und dass, nach Ansicht vieler Theoretiker, Staaten in erster Linie deshalb gegründet werden, weil der Mensch seine Freiheit häufig missbraucht. Somit fällt dem Politiker die Aufgabe zu, Menschen vor der Gewalt, die sie selbst ausüben, zu schützen.

Vor Kant herrschte jahrhundertelang die Gewissheit vor, dass es ohne Gott keinen vernünftigen Schritt der Menschheit geben könne. Augustinus und Leibniz waren davon überzeugt, dass Gott lediglich Gutes geschaffen habe und dass das Böse vom Menschen stammt, das Gott nur "zum Ruhme der höheren Ordnung im Kosmos" zugelassen hat. In seinem Bemühen, Gott angesichts des real existierenden Bösen zu rechtfertigen, beschreibt Augustinus zum ersten Mal so etwas wie ein freies Wollen als Grund des Bösen in der guten Schöpfung Gottes. Leibniz wiederum systematisiert die Verteidigung Gottes im Hinblick auf das Böse in seiner Theodizee.

Der Versuch der nachfolgenden Philosophen, das Böse in ihre Systeme der praktischen und der politischen Philosophie einzugliedern, hat dieses dann von seinen religiösen Ursprüngen entfernt. Der Teufel als Verursacher des Bösen tritt immer mehr zurück, an seine Stelle tritt die "Unvollkommenheit der Kreaturen" (Leibniz). Spätestens seit der Neuzeit steht das Böse für ein moralisches Problem. Hobbes und Machiavelli gründen ihre Theorien auf der Gewissheit, dass die Menschen böse seien, während Rousseau, ihr Gegenspieler, unbedingtes Vertrauen in die Menschennatur hatte. Jahrhunderte später hat Max Weber die Legitimation des Gewaltmonopols über das Böse im Menschen zu der ethischen Frage des Politischen schlechthin erklärt. Nicht der Teufel sei demzufolge schuld am Bösen, schreibt Blanke, der Mensch bringe es ganz allein mit der gleichen Kraft zuwege, mit der er auch das Gute schafft. Das Böse folgt seinem Willen und seiner Freiheit.

Als erster hatte Kant die Theorie vom Bösen und der Politik revolutioniert. Für ihn ist der Mensch dann radikal böse, wenn er die Negation des moralischen Gesetzes zum Prinzip seiner Haltungen macht. Nur wer das moralische Gesetz will, ist, laut Kant, frei. Andernfalls wendet er sich aus Freiheit gegen die Freiheit.

Allerdings sei Kant, führt Tobias Blanke aus, wobei er sich in allerlei Winkelzüge begibt, mit seiner moralischen Freiheit zum Guten gescheitert, nicht zuletzt, weil er gesellschaftliche Hintergründe ausgeklammert hat und weil es, seiner Meinung nach, für das Freiheitswesen keine Situation gibt, in der es vernünftig wäre zu lügen - nicht einmal als Gefangener im KZ. Kein Wunder also, dass seine Pflichtenlehre bei Adolf Eichmann zur Unterwerfungslehre wird, die lediglich besagt, dass man sich höheren Gesetzen zu unterwerfen habe.

Hegels Credo lautet dagegen, der Mensch habe die menschliche Welt zu produzieren und dürfe nicht hinnehmen, was man noch verändern kann. In der Moral sieht Hegel in erster Linie die Anstrengung der Menschen, sich aus der äußeren Welt in eine bessere, innere Welt zurückzuziehen, und glaubt, dass dieser Rückzug keine bessere Welt hervorbringt, sondern diese nur noch gefährlicher macht.

Politik, nicht Moral, bekämpft und beendet das Böse, das sei im Grunde die Idee der politischen Theorie gewesen, behauptet der Autor. Für manche Theoretiker bedarf es dazu allerdings durchsetzungsfähiger Mächte, um das Böse effektiv zu unterbinden.

Wiederholt kommt Tobias Blanke auf Hannah Arendts Schriften zu sprechen. Immerhin hat gerade sie die Gegenwart des Bösen in der Moderne geschildert, und zwar anhand des Sozialtechnokraten Adolf Eichmann, für den das Einzelschicksal hinter die Entwicklung des Ganzen als Nation zurücktreten musste. Gerade durch diese äußerst nüchterne, "profane" Figur sei klar geworden, dass die Moral gegen die nationalsozialistische Wirklichkeit nicht viel ausrichten konnte. Insbesondere Auschwitz habe sichtbar gemacht, was Menschen Menschen antun können. Es habe keines tief verwurzelten Hanges zum Bösen in der menschlichen Natur bedurft, um Millionen Menschen industrieförmig zu vernichten. Ein politisches Projekt namens "Volksgemeinschaft" habe zum Scheitern der Moral geführt. Das Beunruhigende daran sei, dass es überwiegend von Durchschnittstypen ausgeübt wurde.

"Im Herunterbeten von Allgemeinplätzen wie den unveräußerlichen Menschenrechten hat sich die Moral ihres Stachels beraubt", stellt der Verfasser abschließend fest. "Sie will nicht mehr die Freiheit geben, die Welt von sich aus anzufangen, und zum Bruch mit dem bestehenden Sein anleiten. Sie will wieder einfaches Gesetz sein und rechtfertigt das damit, das Böse in den Menschen aufhalten zu müssen, das politisch gesehen so viele hat mitmachen lassen beim Totalitarismus [...]. Durch die Brüche mit ihrem Sein werden die Menschen zur Politik fähig, bloß als unendliche Wesen sind sie fähig, die Endlichkeit zu verändern. Weil die Moral nicht Menschen heute werterziehend verendlichen will, führt sie nicht mehr wie bei Kant und Hegel zur Politik, sondern zur Anti-Politik."

Eine These, über die man noch länger wird nachdenken müssen und über die man gewiss trefflich streiten kann.


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Tobias Blanke: Das Böse in der politischen Theorie. Die Furcht vor der Freiheit bei Kant, Hegel und vielen anderen.
Transcript Verlag, Bielefeld 2006.
227 Seiten, 25,80 EUR.
ISBN-10: 3899424654

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