Nicht mehr atmen

Ludwig Fels' großartiger Roman über die letzten Stunden

Von Mario Alexander WeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Alexander Weber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es war Marcel Reich-Ranicki, der in einer Folge des "Literarischen Quartetts" die These aufstellte, dass man große Autoren daran erkennen könnte, wie sie das Thema Sterben literarisch umsetzten. "Jedermann" heißt das neue, schmale Werk Philip Roths, das für einen längeren Feuilletonmoment den Dreiklang aus Krankheit, Siechtum und Tod in den Blickwinkel rückte. Derweil sorgte in der öffentlichen Wahrnehmung der neue Roman von Ludwig Fels, ebenfalls eher eine Erzählung als ein dicker Schmöker, nur für eine kurze Atempause. Jedoch sollte man beide Romane lesen; im letzteren geht es um nichts weniger als die "Reise zum Mittelpunkt des Herzens."

Tom, Krebspatient im Endstadium, verlässt das Krankenhaus. Ausgestattet mit einer High-Tech-Pumpe, die ihm nach Bedarf Schmerzmittel injiziert. Er wird von seiner Frau Linda, seiner großen Liebe, abgeholt. Eigentlich wollte Jack, ihr gemeinsamer Freund, den Fahrdienst übernehmen. Doch Jack, der berühmte Fotograf, hat noch einen Auftrag zu erledigen und jetzt steckt er im Stau. Tom und Linda nehmen ein Taxi.

"Manchmal kam ihm die Stadt draußen bekannt vor, und dann sagte er es ihr und dem Fahrer, hätte es auch Jack gesagt, dass er immer wieder das Gefühl hatte, schon einmal hier gewesen zu sein - Jack, der sich weiß Gott überall auskannte. Er schloß die Augen vor Glück. Ihr Atem neben ihm klang nah, wie die rollende Brandung eines sanften Ozeans, und er spürte das Herz der Welt in sich schlagen; es fühlte sich gut an, unterwegs nach Hause zu sein, die Erde war die Heimat von Sonne, Mond und Sternen, und er lebte gerne hier. Er lehnte sich zurück, und der Wagen schaukelte und ruckelte auf den Asphaltrillen."

Linda und Tom versuchen es sich in ihrem Zuhause einzurichten. Vorsichtige, tastende Gespräche, während Jack, unterwegs zu den beiden, immer wieder anruft und seine Lage in launigen Ansagen auf dem Anrufbeantworter mitteilt. Endlich ist Jack bei Tom und Linda. Es beginnt ein langer, langer Nachmittag. Die drei wollen raus in die Natur zu einem Picknick. Doch im sterbenskranken Tom brodelt die Eifersucht. Vollgepumpt mit Morphium, in gedanklichen Zwiegesprächen mit seinem Arzt Dr. Olsen und mit der ständigen Angst vor noch mehr Schmerzen scheint es für Tom auf seiner letzten Reise nur noch eine wichtige Frage zu geben: Hatte seine Frau Linda ein Verhältnis mit Jack? Beständig hakt Tom nach, er bohrt in ihrer gemeinsamen Vergangenheit, ein üblicher, flüchtiger Willkommenskuss zwischen Jack und Linda wird für Tom zum Indiz. Jack und Linda reagieren auf Toms Unterstellungen zunehmend rat- und hilflos. Wie soll, wie kann man Abschied nehmen, wenn eine Behauptung im Raum steht, die man zwar verneinen, aber nicht widerlegen kann?

Mittels kurzer Dialoge und knapper Sätze hat Ludwig Fels ein beklemmendes, intensives Kammerspiel über Abschied, Freundschaft, Liebe und Tod geschrieben. Selten hat man ein Buch gelesen, in dem der Satz "Ich liebe dich" öfter vorkam. Ludwig Fels gelingt es, hinter jeder Verwendung dieses klassischen Subjekt-Prädikat-Objekt-Satzes eine lebendige Welt entstehen zu lassen, ohne dabei - die alte Phrase trifft es hier einfach - ein Wort zu viel zu verlieren. Jeder schmerz- und morphiumgesättigte Satz Toms trifft ins Herz, jeder Versuch von Jack und Linda, den Sterbenden nicht allein zu lassen, nimmt einen mit. Bei der Lektüre nimmt jedermann Abschied von Tom, jedermann ist der beste Freund Jack, jedermann ist die große Liebe Linda, aber niemand wird der sterbende Tom sein wollen.

Ludwig Fels' jüngster Roman, der auf der Longlist des Deutschen Buchpreis 2006 stand, ist der seltene Fall eines Buches, das für sich steht. Es ist zeitlos. Unabhängig von Preisverleihungen und Modeerscheinungen. Die letzten Seiten wird man immer und immer lesen wollen. "Ihm fiel ein, daß es manche Dinge gab, die er einfach nicht wusste. Wie ein Wal atmet zum Beispiel." Ganz tief Luft holen sollte der Leser, der sich auf die Reise zum Mittelpunkt des Herzens begibt.


Titelbild

Ludwig Fels: Reise zum Mittelpunkt des Herzens. Roman.
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2006.
160 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-10: 390249705X

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch