Paris war Kafka zwei Reisen wert
Hartmut Binders Bild- und Textband über "Kafka in Paris"
Von Waldemar Fromm
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Weiße Flecken" in der Biographie Kafkas waren für Hartmut Binder, den verdienstvollen Kafkaexegeten und Chronisten von Kafkas Leben, immer schon ein Ansporn zur Suche nach unbekanntem Material, um die Lücken zu schließen. Im Laufe der Jahre sind immer weniger "weiße Flecken" verblieben, eine davon, Kafkas Reisen nach Paris in den Jahren 1910 mit Max und Otto Brod sowie 1911 mit Max Brod, hat Binder nun mit derselben unerforschlichen Rastlosigkeit und Genauigkeit geschlossen, wie viele andere Lücken zuvor. In dem Buch "Kafka in Paris" ist der Aufenthalt in allen denkbaren Facetten und Nuancen festgehalten, das vorhandene biographische Material wird in Wort und Bild mitgeteilt und unter Berücksichtigung zeitgenössischer Quellen kommentiert.
Ein Vergleich des Bandes mit den Kommentaren in der Kritischen Kafka-Ausgabe verdeutlicht, wieviel zu tun war. Allein das zur Verfügung gestellte Bildmaterial ist von unschätzbarem Wert, weil es die Aufenthaltsorte, die Spaziergänge, besuchten Veranstaltungen un anderes mehr anhand von historischen Aufnahmen umfassend visualisiert. Das alles wird vom Autor gründlich erläutert. Binder faßt die Kenntnisse Kafkas und Brods über Paris und Frankreich zusammen, liefert Hintergrundinformationen, entwirft ein Bild von dem städtischen Leben damals und davon, wie es Kafka und Brod wahrgenommen haben. Nicht zuletzt aus diesem Grund läßt sich Binders Buch als hilfreiche Ergänzung zu Karlheinz Stierles "Der Mythos von Paris" lesen. Binder entwickelt anhand der beiden Touristen eine Außenansicht zur Innensicht der Geschichte der Stadt.
Der Bildband verzeichnet darüber hinaus die Impulse, die von dem Parisbesuch für die Prosa Kafkas ausgingen. Er eröffnet Assoziationsräume, die für die Lektüre hilfreich sind. So zitiert er etwa einen Bericht Kafkas zu einem Traum über die Stadt: "In der ersten Prager Nacht träumte mir [...] ich sei zum Schlaf in einem großen Hause einquartiert, das aus nichts anderem bestand als aus Pariser Droschken, Automobilen, Omnibussen u. s. w. die nichts anderes zu tun hatten, als hart aneinander vorüber, übereinander, untereinander zu fahren und von nichts anderem war Rede und Gedanke, als von Tarifen, correspondancen, Anschlüssen, Trinkgeldern, direction Pereire, falschem Geld u. s. w. [...] Ich klagte im Innern, daß man mich, der ich nach der Reise Ausruhn so nötig hatte, in einem solchen Hause einquartieren mußte." Die Verbindung zum Schluß des "Urteils" ist offensichtlich. Binder verweist darauf, dass Kafka im Straßenverkehr "ein Bild menschlicher Kommunikation" gesehen hat, und tatsächlich lässt sich die Formulierung am Schluß des Urteils vom "unendlichen Verkehr" über der Brücke leichter auf das kommunikative Geschehen zwischen Vater und Sohn beziehen.
Das ist nur eines von vielen Beispielen dafür, wie hilfreich Binders Buchs für die Kafka-Philologie sein kann. Selbst Kafka hätte sich nicht derart detailliert an seine Parisreisen und die Einflüsse dieser Reisen auf die Prosa erinnern können.