Zwischen Wirtschaftswachstum und Niedergang

Christian Hallers Porträt einer Familie in den 1950er Jahren

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Vaters Augenkrankheit, die er als junger Mann erlitten hatte, entschuldigte für Mutter so manches, was er an Unverständlichem tat." Mit diesen Worten versucht auch der Ich-Erzähler gleich zu Beginn des Romans "Die besseren Zeiten" von Christian Haller, die Entscheidungen des Vaters, die eigentlich nicht nachvollziehbar sind, zu verstehen.

Die Familie hat es gut gehabt in der Stadt, in der sie bis anhin lebte, die Mutter konnte das bessere Leben, das sie aus ihrer Heimatstadt Bukarest kannte, auch in der Schweiz fortführen, der Vater war ein erfolgreicher Fabrikdirektor. Doch dann kommt der Bruch: Der Großvater bestellt seine drei Söhne mit ihren Frauen und Kindern zu sich, er teilt ihnen mit, dass er eine Maschinenfabrik und Gießerei gekauft habe, die beiden älteren Söhne hätten die Firma zu übernehmen. Der Vater versinkt in sich selbst, nur in seinem Innern tönen die Worte, die er dem alten Patriarchen nicht zu entgegnen wagt. Nach außen dringt allein sein Einverständnis, und sein Ton ähnelt dem des Großvaters, wenn er gelobt: "Wir werden die Bude in Schwung bringen."

Im kleinen Dorf S., in das die vierköpfige Familie nun umzieht, Anfang der 1950er-Jahre, ist nicht nur die Wohnung viel enger als in der Stadt, alles ist eng, kleinlich, provinziell. Wie damals üblich, wird das Neue nicht nur vom Vater, sondern auch von der Mutter und den beiden Söhnen ohne Murren akzeptiert. Man versucht, das Beste daraus zu machen. W., der Vater, übernimmt die neue Aufgabe, er bringt auch die nötigen Erfahrungen mit, hat er doch bereits während des Krieges eine Gießerei und Maschinenfabrik, ebenfalls auf Anordnung seines Vaters, geleitet. Und der Bub, der Ich-Erzähler, versucht, sich seinen Platz zu erobern. Doch mit den Geschichten aus der Stadt vermag er die Buben und Mädchen im Dorf nicht zu beeindrucken. Tannzapfen zu holen im Wald, wie es Felix mit seiner Mutter macht, ist für ihn ebenso fremd wie die abgedeckten Möbel im "Sonntagszimmer", die ihm Felix' Mutter zeigt - was für ihn eine große Ehre sein sollte -, oder die Tatsache, dass im Dorf offenbar alle Leute Pantoffeln tragen.

Am schwierigsten ist dieser plötzliche Ortswechsel wohl für die Mutter. Sie, die aus einer völlig anderen Kultur kommt, die von der Familie ihres Mannes abgelehnt wird, zieht sich immer mehr zurück. "Manchmal, wenn ich allein mit ihr war, hatte ich Zutritt zu ihrer Welt hinter dem Vorhang, wurde ein Teil davon, vielleicht weil ich nur ruhig dasaß, mich nicht rührte [...]. Meistens jedoch blieb auch ich ausgeschlossen, spähte, von ihr unbemerkt, vom Flur her oder dem Speisezimmer auf jene Fremde, die meine Mutter war, die auf dem samtbezogenen Hocker saß, ihre Schachteln mit den Schätzen von früher um sich herum aufgestellt hatte." Die Entfremdung untereinander nimmt zu, Trost suchen Eltern und Kinder in ihren Träumen, in Welten, die den anderen verborgen bleiben.

Obwohl der Vater sich anstrengt, voranzukommen und als Sohn zu genügen, bleibt er der Verlierer, wird ausgetrickst, zuerst vom eigenen Vater und vom Bruder, indem sie ihn wieder aus der Firma rauswerfen, später vom Compagnon, dem er vertraut, der ihn jedoch nur ausnützt. Aus solchen Erfahrungen zieht er keine Lehren, mit einer Gutgläubigkeit lässt er sich immer wieder auf unmögliche Forderungen ein. Wenn er mehrmals auf Druck alles aufgibt, neu beginnt, um noch tiefer zu fallen, bleibt die Mutter die einzige, die ihn nicht aufgibt, die zu ihm steht, die ihn unterstützt und an ihn glaubt.

Zu welchen Handlungen Neid führen kann, welche Demütigungen möglich sind, alles muss W. erfahren, bis er es nicht mehr aushält und einen Zusammenbruch erleidet. Doch er gibt nicht auf, auch nicht nach dieser erneuten Kündigung durch seinen "Geschäftspartner", die er kurz vor der Erkrankung einstecken musste. Sofort träumt er davon, sich einmal mehr selbstständig zu machen. Und weil er vorübergehend nicht mehr Autofahren kann, schlägt er seinem Sohn vor, seine Anstellung zu kündigen und mit ihm gemeinsam in ein neues Unternehmen einzusteigen. Die Geschichte wiederholt sich. Der Sohn - nicht der Ich-Erzähler, sondern sein Bruder -, der Graphiker hätte werden wollen und dann eine Lehre im Elektrokonzern des Onkels machen musste, weil nur das in Frage kommen konnte für einen wie ihn, der aus einer guten Familie stammt, willigt ein: "Ich bin einverstanden, hörte mein Bruder sich sagen. Ich werde kündigen. Ich werde dich fahren." Der Ich-Erzähler jedoch entscheidet sich für den Schauspieler-Beruf und bildet sich dabei ein, "durch die Figuren, die ich als Schauspieler künftig auf der Bühne spielen würde, die Helden aller Zeiten sein zu können, nur nicht ich selbst". Als der Vater kurz vor seinem Tod Bilanz zieht über sein Leben, stellt er sehr wohl fest, dass er vieles falsch gemacht hat. Und er sagt zum Ich-Erzähler, seinem Sohn: "Mach nur immer das, wozu du dich gedrängt fühlst. Geh deinen Weg, auch wenn er keinen Erfolg verspricht. [...] Du musst aber wissen, dass dein Vater ehrlich durch all die Jahre, durch dieses Dreckgeschäft gegangen ist. - Und ich spürte, das war sein ganzer Stolz."

"Die besseren Zeiten" ist der dritte Roman nach "Die verschluckte Musik" und "Das schwarze Eisen", die zusammen die Trilogie des Erinnerns von Christian Haller bilden. Während der Ich-Erzähler im ersten Band dem Leben der Mutter in der rumänischen Hauptstadt nachgeht, ein Leben in einer großbürgerlichen Atmosphäre, jedoch bereits bedroht von den Schrecken des 20. Jahrhunderts, die auch über diese Familie hereinbrechen werden, während er im zweiten Band die Karriere seines Großvaters aufzeichnet, eines Mannes, der sich aus ärmsten Verhältnissen emporgearbeitet hat zu einem bedeutenden Schweizer Unternehmer, lesen wir im abschließenden dritten Teil der Trilogie ein Porträt der Herkunftsfamilie des Erzählers. Haller gelingt es, in einer einfühlsamen Sprache, mit berührenden Geschichten, den Alltag einer Familie aufzuzeichnen, der geprägt ist von strengen Normen, unantastbaren Strukturen und straffen Familienhierarchien. Fortschritt und Wachstum sind die bestimmenden Werte, das Wohlbefinden der einzelnen Familienmitglieder hat in den Hintergrund zu rücken (so werden sie denn auch nie mit Namen genannt). Ohne zu werten zeigt der Autor, wie Vater, Mutter und Söhne immer mehr vereinsamen und es ihnen unterschiedlich gelingt, eine Eigenständigkeit zu bewahren beziehungsweise zu entwickeln.


Titelbild

Christian Haller: Die besseren Zeiten. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2006.
240 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-10: 3630872468

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