Ein behutsamer Augenöffner

Der Lyriker Hellmuth Opitz ist extrem wachen Momenten auf den Versen

Von Stefan TomasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Tomas

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hellmuth Opitz veröffentlicht seit über zwanzig Jahren Lyrik auf hohem Niveau. Sein neues Buch besticht durch die formelle wie thematische Bandbreite. Stilistisch geht es von Prosapoetik über freie Verse bis zum Reim, von locker hingeworfenen Songs bis zu klassischen Metren. Geografisch beginnen wir im Süden und enden in Hamburg. Saisonal starten wir im Winter, erleben Sommer und Herbst. Inhaltlich ist von der "Teestunde mit Schlachtschiffen" bis zur Led Zeppelin Hommage "Mr. Bonham schlägt auf" alles drin, was der urbane Alltag an Liebe, Öde, Wahn und verbeulten Stimmungen zu bieten hat. "Den Rest besorgen die Kehrmaschinen". Dichterschelte wird beim "Elefanten im Paul Celan Laden" ebenso souverän vergeben wie Huldigungen an Musiker oder Stadtviertel. Erotik ist immer dabei, selbst wenn es um die "Kleine Kritik der reinen Vernunft" geht...

Dennoch ist der Band kein Gedichte-Omnibus, der alles versammelt, was sich über die Jahre angehäuft hat und zwischen zwei Buchdeckeln zum Markt fahren will. Bei aller Verschiedenheit der Tonlagen und Themen ist die bindende Klammer ein originär lyrischer Zustand, der im Buchtitel anklingt: "Die Sekunden vor Augenaufschlag". Es sind die Sekunden, in denen der Erwachende noch halb in der Illusion seiner Unverletzlichkeit, halb in der Ahnung der kommenden Verletzungen des Tages aufseufzt.

Das Besondere bei Opitz ist die Verlängerung dieser Sekunden ins Hellwache hinein. Ihm gelingt durch eine verblüffende Bildersprache, in der einfühlsame Naturansichten mit gängigem Zivilisationsgerümpel, öffentliche Slogans mit persönlichen Geständnissen verschmelzen, die Bewahrung eines schwebend-zwielichtigen Zustandes, der sich augenblicklich auf den Leser überträgt und ihn bis zur letzten Zeile nicht mehr los lässt. "Mild treibts der späte Januar: / verschleudert Autos an / Kurven und wattierte Jacken / an den meistbietenden Sturm. / Von weiter unten, tief aus / dem Süden des Übermuts / zieht schon das erste / Hochdruckgebiet Richtung / Mundraum...": Sätze, die auf unaufdringliche Art eindrucksvoll sind und haften bleiben.

Es ist die dunkelklare, einzigartige Grundstimmung, die Opitz durch alle thematische Zyklen und sprachlichen Tonlagen bewahrt. Diese Leistung ist kaum hoch genug einzuschätzen. Andere Dichter leben von ihrer "unverkennbaren" Diktion mit hohem Wiedererkennungswert, die wie ein Markenzeichen wirkt. Hier tritt einer an, der knüppelhart, präzise, schnodderig, sentimental, leise, wild, bissig und launisch daher kommt, der als geistiger Bruder von Jörg Fauser so glaubhaft ist wie er als poetischer Enkel Samuel Becketts formuliert und dabei in keiner Zeile die eigene Färbung verliert.

Das synektische Prinzip, das die unterschiedlichsten Mitglieder im Kreativbereich via "Brainstorming" zu einer gemeinsamen Lösung bringen soll, ist den dichterischen Hirnstürmen vergleichbar, die Opitz entfacht, wenn er die unterschiedlichen Bildebenen für seine poetischen Innovationen nutzt. Da bekommt nicht nur die Natur Beine - "Der Abend war ganz einfach / ohne mich in die Stadt gegangen" - da beweist auch Gott "eine gute Rückhand", wenn es politisch wird: In jenem Sommer neunundachtzig, "Da fing es an. Da hat man Deutschland. / Verdammt und zugenäht." Bestechend dabei seine Leichtigkeit, fast Beiläufigkeit, mit denen er die schwierigsten Gedanken- und Gefühlsklippen nimmt.

Hellmuth Opitz legt mit dieser Sammlung einen rundum gelungenen Band vor, der exakt zwischen epischer Schwatzhaftigkeit und resigniertem Verstummen eine Bresche für moderne Gedichte schlägt. Mehr davon, und die Klagen über die fehlende Leserschaft für Lyrik hätte sich auf erfreuliche Art erledigt.


Titelbild

Hellmuth Opitz: Die Sekunden vor Augenaufschlag. Gedichte.
Pendragon Verlag, Bielefeld 2007.
128 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-13: 9783865320513

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