Wer die Wahl hat, hat die Qual

Elfie Poulains Kafkainterpretation als Rechtfertigunsroman

Von Jürgen WeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Weber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg; / Was wir Weg nennen, ist Zögern." Mit diesem vernichtenden Aphorismus Franz Kafkas wird das hier besprochene etwas apokalyptisch geratene Werk zu Kafkas Œuvre eingeleitet. Das Ziel ist tatsächlich leicht zu erkennen, wenn wir uns über den Weg dorthin auch erst noch einmal genauer unterhalten sollten.

Poulain bezeichnet Kafkas Romane als so genannte "Rechtfertigungsromane". Anders als beim Bildungsroman wird in dieser von der Autorin neu erfundenen Kategorie nicht das innere und äußere Werden der Protagonisten und deren (Re-)Integration in die Gesellschaft erfasst, sondern die ständige Selbstrechtfertigung und die inneren Gründe des Scheiterns. Auch wenn Kafka Elemente des modernen Bildungsromans in seinem Werk "fragmenthaft" verwenden würde, stehe im Mittelpunkt doch immer eine "Kritik und Infragestellung der gesellschaftlichen Normen". Kafkas Protagonisten würden zwar stets die Harmonisierung mit der Gesellschaft und ihrer Umwelt suchen, dabei jedoch immerzu scheitern. Poulain versucht ihre Thesen anhand folgender Romane zu verifizieren: In "Der Verschollene" und "Der Proceß" (sic!) weist sie das Scheitern des Individuums nach, das das eigentlichere Anliegen Kafkas sei; mehr noch als die Kritik an einer ins Extrem gesteigerten Bürokratisierung der Gesellschaft, dem "Räderwerk".

Die Rechtfertigungsromane Kafkas würden den Kernpunkt des menschlichen Scheiterns der modernen Vernunft berühren, der vor allem dort sichtbar werde, wo das Individuum seine Identität heranbilde, nämlich im Bereich der Kommunikation und sozialen Interaktion. Die moderne Welt verunmögliche es aber so zu können, wie man gerne würde, das Sein-Wollen und Sein-Sollen wird zum unüberbrückbaren Widerspruch und führe zu ewiglicher Selbstrechtfertigung vor dem anderen Mitmenschen. Der Mensch sei deswegen im modernen Zeitalter auch kein Individuum mehr und auch nicht mehr frei. Kafkas Protagonisten würden aber gerade aufgrund ihres Willens, sich als autonome Wesen zu behaupten, in einer "chronische[n] Selbstkrise" versinken.

Elfie Poulains Kafkaanalyse widmet sich vor allem der in ihren Augen zentralen Frage des Autors, ob das autonome Individuum sich schlussendlich als solches beweise, wie es vorgibt zu tun, oder im Gegenteil zu dem werde, was die anderen, die soziale Welt aus ihm mache. In den genannten Beispielen der von Poulain untersuchten Werke Kafkas gelingt es ihr, die eingangs angeführten Thesen zu verifizieren und den Grundkonflikt der Protagonisten zu veranschaulichen: selbst autonomes Wesen zu sein und dies auch ständig beweisen zu müssen, gleichzeitig aber das autonome Wesen der anderen zu respektieren, führe zu einer Disharmonie, zu deren Lösung es wohl eines ganzen Menschenlebens bedürfe.

Die im Titel angesprochene "Hölle" besteht vor allem in der Frage: "Habe ich es richtig gemacht?" oder "Habe ich richtig gewählt?", denn die Freiheit der Wahl bedeutet auch eine große Verantwortung für sich und die anderen. Der Mensch am Beginn des ersten Jahrhunderts ohne Gott (dem 19.) müsse die Verantwortung für sein Tun alleine tragen und könne für seine Schuld keine Vergebung mehr finden, wie es der religiöse Mensch vor ihm noch konnte. Die durch die Rechtfertigungsansversuche angestrebte Identität könne - laut Poulain - niemals eine endgültige sein, sondern nur eine vergängliche, in der Außenwelt umstrittene. Hierin ähnele sie der Wahrheit: "Man kann sie nie endgültig und ein für allemal besitzen; man kann sie immer nur leidenschaftlich suchen".

In ihrer vorliegenden Studie greift Elfie Poulain - von ihrem theoretischen Hintergrund her - vor allem auf Michel Foucault, Theodor W. Adorno und Walter Benjamin zurück, aber natürlich auch auf viele andere, die in der im Anhang befindlichen Literaturliste genannt werden. Elfie Poulain studierte in Paris und Montréal. Heute ist sie Professorin für Deutsche Sprache und Literatur an der Universität Lille. Sie hat bereits zahlreiche Bücher ins Französische übersetzt und ebenso zahlreiche eigene Veröffentlichungen publiziert.


Titelbild

Elfie Poulain: Kafka. Einbahnstraße zur Hölle. Oder die unmögliche Selbstrechtfertigung des Daseins.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2003.
224 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-10: 347645312X

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