Es gibt nichts Gutes, außer man tut es

Teofila Reich-Ranicki illustriert Kästner

Von Sabine KlomfaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Klomfaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1941 im Warschauer Getto. Als es nur noch darum geht, den nächsten Morgen zu erleben, macht Teofila Lagna ihrem zukünftigen Ehemann Marcel Reich-Ranicki zum 21. Geburtstag ein einzigartiges Geschenk: eine eigenhändige und liebevoll illustrierte Abschrift von Erich Kästners "Lyrischer Hausapotheke".

Da es diese Gebrauchslyrik-Sammlung nicht mehr zu kaufen gab, hatte Teofila insgesamt 56 von Marcel ausgewählte Gedichte kopiert und zu einem Heft zusammengebunden. Diese Auswahl zeigt an, welcher Art von Gedichten die beiden bedurften - die Medizin der Gedichte lässt auf die Krankheit zurückschließen. So finden sich vor allem melancholisch durchsetzte und dennoch sachliche, nüchterne Gedichte - solche, die von den alltäglichen Dingen und Stimmungen des Lebens handeln. Bestimmte Themen wie "Lebensüberdruss" oder "Auswegslosigkeit" werden jedoch ausgeklammert.

Dieses Heft ist bis heute erhalten geblieben und wurde jetzt als Buch (mit einem Auszug aus Reich-Ranickis "Mein Leben" und einem Nachwort von Salomon Korn) herausgegeben: Die Seiten sind vergilbt. Bei einzelnen Wörtern der ausdrucksstarken Handschrift ist die Tinte verlaufen. Und sieht man etwas genauer hin, fallen die mit Bleistift eingefügten Unterstreichungen und Kreuze auf, durch die Teofila Reich-Ranicki nach dem Krieg bestimmte Verse und Gedichte für sich selbst kennzeichnete. So erhalten wir ein Bild von ihrer persönlichen Verfassung, z. B. "Und ich geh nach Hause, / weil ich mich nicht mag.", aber auch Kästners "Moral" ist dick angestrichen: "Es gibt nichts Gutes, / außer man tut es."

Aus dem Nachwort ist zu erfahren, dass Teofila Reich-Ranicki vergeblich nach dem Krieg versuchte, Kunstwissenschaft in Warschau zu studieren: "Ihr innerer Antrieb war zerstört, der Wille zum Neuanfang erloschen."

Dieses Buch enthält leider nicht das Vorwort von Erich Kästner und seine Gebrauchsanweisung mit dem Register, von dem er sagt: "Und welchen Sinn hätte der gesamte Inhalt einer Hausapotheke ohne Gebrauchsanweisung und ohne Etiketts? Nicht den geringsten Sinn! Die Hausapotheke würde zum Giftschrank!" So ist Teofila Reich-Ranickis Abschrift nicht in dem Sinne der Hausapotheke Kästners zu sehen, sondern als eindrucksvolles und geschichtliches Dokument, das in erster Linie als persönliche Geste zu verstehen ist.

Titelbild

Erich Kästner: Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke. 50 Gedichte im Warschauer Getto aufgeschrieben und illustriert von Teofila Reich-Ranicki.
Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2000.
82, VI, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3421053731

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