Der Doppelgänger in der Moderne

Ein Sammelband mit Beiträgen zur Motivgeschichte

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Doppelgänger verstört und fasziniert zugleich: sein Auftauchen verwischt die Grenze zwischen dem Ich und den Anderen. Er unterhöhlt die Autonomie des Subjekts und hinterlässt beim Individuum das schizoide Gefühl, sein eigener Halbwaise zu sein. Erst in der Literatur der Moderne weicht die rätselhafte Abnormität der Differenzbeziehungen zu anderen, der Versuch, durch ein Double den Glauben des Protagonisten an seine Individualität zu erschüttern, einer archaischen Entgrenzungslust. Nach den romantischen, um Verwechselung, Desintegration, Zerrissenheit und Doppelgängerparanoia gruppierten Texten in der Tradition des römischen Komödiendichters Plautus (Poe, E. T. A. Hoffmann, Jean Paul, Dostojewskij) tritt mit R. L. Stevensons berühmter Erzählung "The strange case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde" das Phänomen der alternierenden bzw. multiplen Persönlichkeit in den Vordergrund. Sie gestattet dem Ich den Ausbruch aus dem Korsett gesellschaftlich beschnittener Individualität und eröffnet ihm die Möglichkeit einer umfassenderen Erfahrung seiner Existenz. "Insbesondere seit Ende des 19. Jahrhunderts", so Christof Forderer in seiner instruktiven Studie "Ich-Eklipsen" (1999), "ist der Doppelgänger nicht nur der düstere Schatten des Menschen, der in seiner Identität bedroht ist, sondern auch Figur einer Expansion aus zu eng geschnürter Identität. [...] Die Moderne hat im Doppelgänger einen Mythos gefunden, in dem sie sowohl ihr Leiden an der Entfremdung als auch ihre Leidenschaft für Grenzüberschreitungen ausdrücken konnte."

Davon weiß mutatis mutandis auch der vorliegende Band zu berichten. Hat man sich erst einmal um Vorwort und Annotationen der Herausgeberin Ingrid Fichtner herumgedrückt, die ein einheitliches Bild des modernen Doppelgängers frei nach dem Motto "es gibt dieses und jenes" unnötig verwässern, so werden seine charakteristischen Züge in vielen Facetten greifbar. Chava Eva Schwarcz etwa stellt am Beispiel des Kleistschen "Amphytrion" das Moment eines abgespaltenen, dämonischen Ichs der kontemplativen Ganzheit beider Pole der Doppelgängerbegegnung in Thomas Manns Novelle "Die vertauschten Köpfe" gegenüber, wenn auch die falsche Vokabel der "Motivkonstanz" eine Erklärung des motivgeschichtlichen Wandels vereitelt. In Manns Essay "Bruder Hitler", schreibt Rüdiger Görner, wird die Fiktion des Doppelgängers als Wunsch nach Vervielfältigung entzifferbar, mit dem Zweck der kathartischen Läuterung und der Befreiung vom grausigsten aller Wahlverwandten. Gewissensnot und Selbstrechfertigungsdrang erzwingen die peinliche Auseinandersetzung mit dem "Bruder". Görners Fazit: "Der Doppelgänger ist nicht nur die unheimliche dostojewskische Gestalt, die man flieht, sondern auch der unheimliche Verwandte, den man insgeheim sucht."

Tiefe Einblicke gewährt der Doppelgänger vor allem dort, wo sich in ihm gesellschaftliche Widersprüche auskristallisieren und das Andere des Selbst zur Maske wird oder, wie Gudrun Marci-Boehncke an Helmut Käutners Film "Kleider machen Leute" zeigt, als Figur der Verweigerung hervortritt. Erk Grimms Beitrag, der sich den medialen Bedingungen des Doppelgängers im Roman der Weimarer Republik zuwendet, beleuchtet, auf welche Weise die Literatur anhand des Doppelgängermotivs auf die soziale Malaise in den Großstädten der 1920er Jahre reagiert: die mediale Serialisierung und die politischen und ökonomischen Krisen untergraben die Souveränität des Individuums. Emplarisch in der Form des Hochstaplers, der sich skrupellos über das glatte Parkett des urbanen Milieus der Angestellten, Ganoven und Hotelgäste bewegt, verlangen sie ihm Manöver der Verstellung und der Täuschung ab. Dem Hochstapler, dem die betrügerische Verdoppelung das Überleben sichert, ist die romantische Furcht vor dem Doppelgänger abhanden gekommen. Auch Hans-Hagen Hildebrandts philosophisch unterfütterter Aufsatz zum Verhältnis von Original und Spiegelbild fügt sich in das Bild der oben skizzierten Selbsttranszendierung. Platons Identifizierung von Ursprung und Wahrheit und seine Disqualifizierung alles Bildhaften als simulacrum, als Lüge und Trugbild, so Hildebrandt, tritt in der Neuzeit hinter eine breite Produktion von Subjekt-Figurationen und -Phantasmen zurück. Rousseau beispielsweise versteht die Konstitution von Identität als Verdoppelung durchaus positiv. Sie vollzieht sich als Verwandlung in den Text, als Umgang mit selbstgeschaffenen Zeichen. Deshalb nimmt er sein Doppelgängerdasein "weniger als Bedrohung wahr, als beunruhigende Todesankündigung wie viele Romantiker [...], sondern wendet sich eher der Chance zu, im Text als (wieder) Auferstehender zu überleben, der sich über Zeiten hinweg mit sich selbst unterhält."

Ob als Schattenzwilling, Stellvertreter, Verkleidung, oder als Einschreibfläche der Flucht und des Aufbegehrens - erst außerhalb seiner kommt das Ich zu sich selbst. Lesenswert ist auch Michael Niehaus' Beitrag zum Modell von Detektiv und Gegenspieler in der Detektivgeschichte. Hier stehen Detektiv und Täter als virtuelle Doppelgänger oder verschobene Spiegelbilder einander gegenüber. Die Geschichten von Verbrechen und Aufklärung fallen selbst dort nicht zusammen, wenn sich - wie bei der Recherche des Ödipus, dem Urstoff des Detektorischen schlechthin - die Identität von Suchendem und Gesuchtem offenbart: "Die Geschichte des Detektivromans ist nicht einfach immer dieselbe, es ist vor allem eine, die auf immer dieselbe Weise doppelt ist - eben die Geschichte, die rekonstruiert wird und die Geschichte ihrer Rekonstruktion." Beiträge zu Diderots Dialog "Rameaus Neffe", einem spätromantischen Schauerroman James Hoggs, zur Wirkungsgeschichte des Nibelungenliedes sowie zum Doppelgängerphänomen in der Musik runden den Band ab.

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Ingrid Fichter (Hg.): Doppelgänger. Vom endlosen Spielarten eines Phänomens.
Haupt Verlag, Bern 1999.
ca. 220, 33,20 EUR.
ISBN-10: 3258060002

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