Perlen der Deutschlandkritik
Timo Rieg hat Tucholskys "Deutschland, Deutschland über alles" einem angenehm radikalen Relaunch unterzogen
Von Malte Horrer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWo liegt sie denn nun, die Nation? Am Boden hernieder oder schlaflos auf der Erbse oder auf Wolken gebettet? Die Antwort ist einfach: auf sauber beschrifteten Aktenordnern! Da schläft die Nation zurecht unruhig, obgleich sie keine Prinzessin ist, weil das einfach unbequem ist: Hier drückt ein Ordnerrücken, dort zwickt ein Metallbügel - und wenn sich die Nation dann unruhig hin und her wälzt, rutscht sie irgendwo in der Mitte in einen Spalt zwischen den Ordnern und verheddert sich im bürokratischen Sumpf, wird von nachrutschenden Akten begraben. Da liegt die Nation dann: lebendig eingesargt, aber nach außen hat alles seine Ordnung, da stehen die Ordner stramm und zeigen allerwelt, dass hier alles perfekt ist.
Die Kernkritik von Tucholskys "Deutschland, Deutschland über alles" ist die, dass in Deutschland Recht und Ordnung nicht deshalb gelten sollen, damit ein zivilisiertes Zusammenleben in der Gesellschaft möglich ist, sondern als Selbstzweck. Dieser Selbstzweck wird auch in die hinterletzten Lebensbereiche ausgedehnt, damit alles - aber auch wirklich alles! - seine schöne Ordnung hat. Der angenehme Nebeneffekt dieser Ordnungswut ist, dass unendlich viele Menschen, die dumm und oberlehrerhaft genug sind, diese Ordnung bis ins Kleinste auch festlegen und überprüfen zu wollen, dafür mit hohen Gehältern, Unkündbarkeit, umfassender Gesundheitsfürsorge und einer sicheren und fetten Pension belohnt werden müssen.
Bei Tucholsky klingt das so: "Es ist so viel Freude am Befehlen in diesem Kram; sie [die Polizisten] kämen gar nicht auf den Gedanken, dass sie dazu da sind, den Verkehr zu glätten - sie achten auf die Durchführung von Vorschriften, die keinen anderen Sinn haben, als durchgeführt zu werden. Man spürt in jeder Faser, wie im regelnden Polizeimann eine Stimme singt: 'Vor allem halte hier mal an. Und dann werden wir weiter sehen. Und so einfach weitergefahren wird auch nicht - das ist hier eine ernste Sache und die hast Du zu respektieren.'" Und die normalen Leute? Erst ertragen sie es, dann respektieren sie es und irgendwann haben die meisten es so verinnerlicht, dass sie es sogar richtig finden, so dass "in einem deutschen Schlafwagen ja nicht nur die Schaffner Dienst tun, sondern auch die Fahrgäste".
All das hat Kurt Tucholsky schon 1929 aufgeregt und regt auch Timo Rieg heute noch auf. Tucholsky hat deshalb damals ein Buch veröffentlicht, dass in rund 100 kurzen Kapiteln Schlaglichter auf eigentlich alle Bereiche des damaligen Deutschland wirft, auf Politik, Verwaltung, Militär, Justiz, Wirtschaft, Gesellschaft. Das Buch hat, obwohl bald 80 Jahre alt, in seiner Kritik eine erstaunliche Aktualität. Aber es hat auch ein paar handfeste Probleme: Erstens stehen die Kapitel bei Tucholsky wie Kraut und Rüben durcheinander - Beispiele über Beispiele ohne irgendeinen sinnvollen Zusammenhang. Und zweitens sind es der Beispiele zu viele - und zu viele ohne die nötige inhaltliche und sprachliche Schlagkraft. Das Original von Tucholsky aus dem Jahre 1929 ist heute letztlich ein ermüdendes Buch!
Timo Rieg aber hat die potentielle Schlagkraft von "Deutschland, Deutschland über alles" - so lautet der Titel auch heute - dennoch erkannt: Er hat aus dem Buch die Perlen herausgesucht, sie systematisch neu zusammengestellt (nach Bereichen wie Politik, Beamtenapparat, Justiz et cetera), um andere passende Texte von Tucholsky und um eigene aktuelle Texte ergänzt. Ebenso wie den Text hat Rieg das reiche Bildmaterial bei Tucholsky reduziert und aktuelle Bilder hinzugefügt. So sind von dem eigentlichen Buch Tucholskys gerade einmal 8% der Texte übrig geblieben. Ob man das noch "neu herausgegeben" nennen kann? Ein anderes Etikett wäre vielleicht besser, zumindest aber ehrlicher gewesen. Und auch im Innern ist die Trennung von alt und neu, von Tucholsky und Rieg zwar vorhanden, aber nicht übermäßig augenfällig. Das sind die einzigen und eigentlich kleinen Schwächen des Buches.
Aber sonst hat Timo Rieg alles richtig gemacht. Dieser radikale Relaunch von Tucholskys Deutschlandkritik hat etwas sehr Entscheidendes geschafft: Er hat dieses Werk wieder lesbar gemacht! Rieg hat uns Tucholsky neu erschlossen, auch und gerade deshalb, weil er uns mit der Zusammenstellung der einzelnen Elemente des Buches vor Augen führt, wie stark viele Probleme im heutigen Deutschland die gleichen sind wie in dem der 1920er-Jahre. Woher kommt das?
"Das kommt daher, dass die Deutschen sich einbilden, man könne eine Sache zuende organisieren. Ein Stempelsteuergesetz mit 884 Paragraphen - eine 'Stempelsteuer-Wissenschaft', die es nicht gibt, sondern die man erfunden hat, um geschäftigen Nichtstuern zu Brot zu verhelfen, das sie verdienen, ohne es zu verdienen. Hier gibt es: Pension; völlige Verantwortungslosigkeit im Handeln; Autorität; Befriedigung von dumpfen Gelüsten. Es ist der Geltungsdrang als sozialer Faktor, der hier arbeitet. Waschen durfte man sich auch auf dem Bahnhof Friedrichstraße, aber die Hauptsache ist immer der Waschraumschalterbeamte. Beamtenpest und deutsche Richter. Vor allem wirkt der deutsche Richter wie einer, der seinen Beruf als Berufsstörung auffasst. Auf dem Wege zur 'Erledigung' von Prozessen und Personen liegen die Steine des Anstoßes, die da stören: ausführlicher Zeugenbericht, Plädoyers, unvorhergesehene Anträge ... kurz alles, was über die angesetzte Zeit hinausgeht."
Was aus dieser Schimpftirade Tucholskys spricht - die in Wahrheit gar kein durchgängiges Zitat, sondern eine wilde Montage aus dem Buch ist -, ist eine radikalere Opposition als die zu den gerade Herrschenden. Die Kritik geht gegen die Ausbeutung des demokratischen Systems.
Keine der vielen Koalitionen der Weimarer Republik ist das Problem, auch nicht Schwarz-Gelb oder Rot-Grün oder die große Koalition, nein - das Problem sind die Leute im Staat, die sich selber wichtiger nehmen als ihre Aufgaben. Nicht eine bestimmte politische Entscheidung ist das Problem, nicht irgendeine Reform: "Jeder Reformversuch endet gewöhnlich damit, dass der Dreck, statt herausgekehrt zu werden, von einer Ecke in die andre umgelegt wird."
Tucholsky "fragt uns als Souverän, was wir da eigentlich treiben lassen, bis heute". So formuliert es Rieg und es ist auch seine eigene Frage. Aber da seine Problemanalyse weitaus schwammiger ist als bei Tucholsky, ist es nur logisch, dass Rieg uns auch die Antwort zumindest in diesem Buch schuldig bleibt, 2004 empfahl er eher satirisch in dem gleichnamigen Buch "Verbannung nach Helgoland". Tucholskys Antwort ist ernster - und doch verkauft er sie uns nicht als der Weisheit letzter Schluss, sondern versteckt sie irgendwo inmitten der Kapitel, inmitten der Gewehrsalven von Beispielen und Kritik: "Eine wirkliche Änderung? Dazu hat der liebe Gott die Revolution erfunden. Dann gehts wieder für eine Weile." Den Lesern dieses Buches bleibt je nach Gesellschaftsbild nur noch zu wünschen: Mögen Gott oder die Revolution mit Ihnen sein!
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