Leben ist Scheitern und Kampf

Reinhard Jirgls Roman "Die Atlantische Mauer"

Von Nicolai KobusRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nicolai Kobus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine junge Frau aus dem Osten Berlins will nach ihrer gescheiterten Ehe mit einem Schauspieler und einer kurzen, gleichfalls gescheiterten Liaison mit dem generösen Oberarzt just eben jener psychiatrischen Klinik, in die nun gerade ihr Ex-Mann eingeliefert wurde und aus der dieser, wie es sich für einen zünftigen Psychopathen gehört, auch wieder ausbricht, was seiner Ex-Frau, ihrerseits Krankenschwester zur falschen Zeit in genau derselben Klinik, unter dem Verdacht der Beihilfe als grobe Verfehlung im Dienst zur Last gelegt wird - diese junge Frau also will, weil mit diesem letzten Fehlschlag ihr bisheriges Leben sich als vollständig missraten präsentiert, jenseits des Atlantiks in den "Staaten" noch einmal ganz von vorn beginnen.

Die einschlägigen Kontakte des distinguierten Oberarztes nach Übersee sollen ihr den Weg ebnen. Im Reisegepäck obenauf liegen bereits die notwendigen Papiere zur Anbahnung eines freilich illegalen Beschäftigungsverhältnisses. Kurz und tragisch: die Rechnung ward ohne den amerikanischen Zoll gemacht. Der entdeckt die verräterischen Dokumente und schickt die Frau kurzerhand in Ketten zurück ins dunkle Deutschland. Frontalkollision mit der "atlantischen Mauer".

Anderen Autoren wäre dies Stoff genug zu einem ganzen Roman. Reinhard Jirgl stanzt daraus auf knapp zwanzig Seiten mal eben eine wuchtige Exposition. Denn mit der vorzeitigen Rückkehr der Abgewiesenen beginnt erst die eigentliche Geschichte dieses ersten Teils eines groß angelegten Triptychons. Die junge Frau kommt bei ihrem Bruder unter und entledigt sich in einer Art kalten Entzugs der Altlasten ihrer gescheiterten Biographie, während ihr Bruder sich aufschwingt, die Geschichte seiner Schwester, ihrer Familie und damit auch seine eigene Geschichte zu erzählen. Und das ist die exemplarische Katastrophengeschichte einer deutschen Familie.

Spätestens seit den letzten beiden Romanen ("Abschied von den Feinden", 1995, und "Hundsnächte", 1997) ist man geneigt, von Jirgl das Schlimmste zu erwarten. Kein anderer deutscher Autor pflegt einen derart schwarzen Blick auf Gegenwart und jüngere Vergangenheit dieses Landes, und kein anderer verfügt über einen derart wortmächtigen Vorrat an Sarkasmus, dass er ihn gleich kübelweise über seine Prosa gießen kann. Dafür wird er geehrt und mit Preisen dekoriert (zuletzt 1999 mit dem Breitbach-Preis und der Bobrowski-Medaille), dafür aber ebenso von einer größeren Leserschaft gemieden. Denn es bedarf schon einer erhöhten Leidensfähigkeit, seine Texte auszuhalten, und naturgemäß gibt es nur wenige, die in Kauf nehmen, dass es ihnen nach der Lektüre garantiert so richtig dreckig geht.

Auch in seinem neuen Roman "Die atlantische Mauer" wird Jirgl den Erwartungen über die Maßen gerecht. Er lässt kaum etwas aus: Von den geplatzten oder krampfhaft hochgehaltenen Illusionen, aus denen Lebensentwürfe gestrickt sind, über die pathologischen Begleiterscheinungen der Krankheit "Liebe" nebst ihrer chronisch degenerierten Wucherungen als "Familie", bis hin zu sexuellem wie emotionalem Mißbrauch und handfestem Mord.

Die Ehe der Eltern im Osten ist genauso ein bürgerlicher Sarg wie es Ehen im Westen sind, und das Familienleben ist die drumherumgebaute Leichenhalle. In den besten Jahren verläßt die Mutter den Vater, um fortan in einer lesbischen Beziehung ihr Seelenheil zu finden, während der Vater, ein verhinderter Maler, sich auf den Dachboden zurückzieht, um bis ans Ende seiner Tage Matisse-Bilder zu kopieren und ansonsten zwischen Staub, Rotwein und gelegentlichen Suizidversuchen dahinzudämmern. Die neue Gefährtin der Mutter wiederum, die "Schwesterfrau", flieht vor ihrer Geschichte aus dem Westen in den Osten, nimmt jedoch den jahrelangen Mißbrauch durch den eigenen Vater und eine gründlich ruinierte Psyche mit ins neue, von Beginn an neuerlich verfehlte Leben.

Dazwischen liegen Mauerfall und andere Beziehungskatastrophen. Die Welt ist schlecht, der Mensch ein Fehler und Leben ein fortwährendes Scheitern. Jirgl konstatiert immer wieder genau das und stemmt sich zugleich mit aller Kraft seiner schriftstellerischen Virtuosität dagegen. Ein desillusionierter Don Quichote, der längst weiß, daß die Windmühlen nur Windmühlen sind und der wahre Feind im selben Sattel reitet, der aber dennoch, oder gerade deshalb, nicht aufhören kann zu kämpfen.

Im Mittelteil des Romans, einem manischen 80-Seiten-Monolog aus dem Herzen der Psychiatrie, erfahren wir, daß besagter Schauspieler, Ex-Mann und bekennender Verrückter mit dem Hämmerchen nicht nur sein Sparschwein, sondern auch allerhand umherstreunende Hinterhofgestalten "Ka.!Putt" gehauen hat: "Diese-Pachullkes... Wenn SIE ausm Leim gehen. Platzt die ganze Brühe aus IHNEN raus. Der ganze innere Giftmüll [...] Sie schrieen... Diese Irren. Das lag an mir. Ich war noch nicht sicher im Hieb. SIE mußten noch ne Weile zappeln. Brüllen. Röcheln. Was für schweinische Töne. Ich schlug drauflos. Immer ruff auf die blöden Nischel. Peng Peng. Dumpf u feucht wie Schläge auf dicke berstende Wassermelonen. SIE lagen schon niedergestreckt. Die Augen quollen raus. Glotzend wie abgepellte Eier. Und die Schweinekerle SIE brüllten weiter. Berserker. Nicht daß ich Angst gehabt hätte. Vor den Nachbarn. Die mich bei meiner Arbeit erkennen könnten. Bei den Bullen anschwärzen. Die Säue=die Nachbarn. SIE waren daran gewöhnt. Ans Schreien & Getobe aus diesen Koben. Suffverzerrte Mäuler voll mit Wut Gebrüll u Mord. Das ist normal bei den-Normalen."

Es ist ein alter Trick, den intellektuellen Misanthropen in die Gummizelle zu sperren, auf dass er, von moralischer Beißhemmung befreit, mal so richtig möge vom Leder ziehen können. Allein, es bleibt ein Trick, und diese Suada aus Ekel und Hass auf den menschlichen Schlamm einer modernen Großstadt ("Menschenschwemme" ist das Kapitel überschrieben) vermag vielleicht noch ein sehr genaues Bild von der Kehrseite des Metropolenwahns zu zeichnen, in Intensität und Aufrichtigkeit jedoch bleibt sie weit hinter ihrer Motivation zurück.

Zudem scheint Jirgls Privatorthographie mittlerweile eher eine Art spleeniger Selbstläufer zu sein, wohingegen sie noch in den "Hundsnächten" über weite Strecken ihren eigenen Text schrieb. Hier ist sie größtenteils Marotte, angetrieben vom Zwang, sich nur ja keinen Kalauer durch die Lappen gehen zu lassen. "Jedenphalls", "keinesphalls", "schwanzficksiert" - es wimmelt von derartig mutierten Morphemen, so dass man sich fragt, ob Jirgl seinen Lesern das Selberlesen überhaupt noch zutraut. Auch verstärkt die gleichförmige Mechanik der Schreibweise den Eindruck, daß sein doch eigentlich sehr differenziertes Personal weitgehend in nur einem einzigen Tonfall spricht. Abgesehen von den zahllosen Pachullkes auf den Hinterhöfen dieser Welt, sind sämtliche Charaktere des Buches, gleich ob Mann, Frau, jung oder alt, mit ein und derselben bitteren Eloquenz gesegnet. Das entzieht dem Text zuweilen seinen realistischen Boden, den er doch andererseits gerade durch seine detailversessene Drastik in gnadenloser Beobachtung wieder und wieder beschwört.

Der dritte Teil spielt dann tatsächlich auf der anderen Seite der "atlantischen Mauer": Eine Sturmnacht in einem ländlichen Vorort von New York. Ein langes, mit Bourbon angereichertes Gespräch zwischen Vater und Sohn. Der Vater, ein alternder deutscher Schriftsteller, vom Sohn eingeladen, den Lebensabend doch im selbst gebastelten amerikanischen Familienidyll zu fristen, erfährt, dass dieses Idyll natürlich ebenfalls ein Desaster ist, und dass sein Sohn schon lange um das Zustandekommen weiß: sein Vater hatte ihm seinerzeit Gattin und Greencard gekauft.

Noch einmal tauchen wir ab in eine fatale Familientragödie, und es ändert nichts, dass es zu Teilen jetzt auch eine amerikanische Tragödie ist. Denn wie es damals zu beiden Seiten der deutschen Mauer nur ein einziges Problem war, ist es jetzt jenseits der "atlantischen Mauer" noch immer dasselbe: der Mensch. Doch bevor wir vollends in den Untiefen der menschlichen Beziehungen zu ersaufen drohen, wirft uns Jirgl noch einen mythologischen Rettungsring hinterher: Der Schauspieler und Ex-Mann der jungen Frau hatte als einzige und, wie sich versteht, erfolglose Filmrolle einen modernen Orpheus gegeben und holt nun in dieser Maske seine zum zweiten Mal - nicht ganz so erfolglos - die atlantische Mauer überfliegende Ex-Frau via Bordfilm ein. Derweil verliebt sich der alternde Schriftsteller auf demselben Flug in die junge Frau, die wiederum verblüffende Ähnlichkeiten mit jener damals gekauften Gattin des Sohnes aufweist. Der Sohn folgt seiner Frau in wahrhaft orpheischen Abstiegen in die Unterwelt der New Yorker Grand Central Station, nur um festzustellen, dass seine Ehe gescheitert ist. Und so flüchtet er zurück nach Deutschland, im Gepäck alle Anlagen, fürderhin das Alter Ego des Schauspielers auszufüllen.

Alle Figuren drehen sich permanent um, verlieren sich und finden sich doch ineinander verwandelt wieder, was hier erstmals einen befremdlichen Schimmer von Hoffnung in das Dunkel der Jirgl-Prosa dämmern lässt. Aber die Metamorphosen sind nicht nur ausgefuchste Kunstgriffe, mit denen Jirgl die drei Teile seines Romans verzahnt, sie sind vor allem intellektuelle Sedativa, die in mythischen Nebel hüllen, was von Beginn an klar war: nämlich daß die Tragödie kein Ende nimmt.

Titelbild

Reinhard Jirgl: Die atlantische Mauer.
Carl Hanser Verlag, München 2000.
456 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3446198466

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