Gespenstergeschichten

Marek Krajewskis Breslau-Krimi

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der polnische Kriminalroman beginnt eigentlich erst mit der Perestroika, und wie das Beispiel Marek Krajewskis zeigt, hat er sehr schnell den Abstand zu den alten Krimi-Literaturen etwa Deutschlands, Englands oder der USA aufgeholt und keinen Grund, sich zu verstecken. Autoren und ihr Publikum lernen schnell, und da jede Krimi-Szene zugleich ihre eigenen Gewohnheiten und Vorlieben ausbildet, unterscheidet sich das, was aus Polen hierher kommt, doch deutlich von dem, was wir aus anderen Sprachräumen kennenlernen können.

Übersetzt wird viel. Lesen kann man viel. Und es ist viel Gutes dabei, ohne Zweifel. Und bei allen Tendenzen: Nicht nur jeder Autor schreibt anders als jeder andere (auch wenn das Schreiben lernbar ist), auch jede Szene, jeder Sprachraum, jeder Kulturraum bildet andere Formen aus. Und aus jedem dieser Gründe ist dieser Roman Krajewskis etwas Besonderes und Eigentümliches.

Eigentümlich für einen polnischen Roman ist erst einmal, dass Krajewskis Roman nicht irgendwo und irgendwann spielt, sondern im Breslau des Jahres 1919. Und dass er nicht irgendeinen Helden hat, sondern den Kriminalassistenten Eberhard Mock. Dass er also nicht in Polen und Wroclaw spielt und selbstverständlich einen polnischen Helden oder ein polnisches Thema hat, sondern im Deutschland der ersten Nachkriegsjahre des 20. Jahrhunderts. Und das ist in der Tat bemerkenswert.

Möglicherweise geht diese Wahl darauf zurück, dass es in Polen seit einigen Jahren eine neue Welle von Historisierungen gibt, die den Schritt hinter die Polonisierungsbemühungen der Nachkriegsjahre macht. Ein Land, das mit dem Ende des Weltkrieges - etwas flapsig formuliert - ungefähr 100 Kilometer nach Westen verlegt wird, hat naheliegend das Bedürfnis, die neuen Gebiete, die zum ehemaligen deutschen Schlesien gehören, auch symbolisch, kulturell und historisch in Besitz zu nehmen. Solche Bemühungen ignorieren notgedrungen, dass Grenzräume in Europa immer in Bewegung und als Übergangsräume kulturell mehrfach konnotiert waren.

Das Bewusstsein dafür wächst in einem Polen, das sich nicht mehr hinter dem Eisernen Vorhang und unter Kriegsrecht befindet, sondern zur Europäischen Union gehört. So kann es geschehen, dass es in Polen Interesse für deutsche Autoren gibt, die im deutschen Sprachraum längst vergessen sind. Ernst Wiechert ist, wie man hört, so ein Fall. Und es kann dazu führen, dass ein polnischer Autor zwar seinen Wohnort zum Handlungsort seines Krimis wählt, aber Zeit und Personal so anlegt, dass wir es hier auf einmal nicht mehr mit Polen zu tun haben, sondern mit Deutschen. Und dass wir es auch nicht mit der Schlesienkrise mit Freikorps und allem, was dazu gehört, zu tun haben, sondern uns in einem Spielraum bewegen, der von Krieg und Niederlage, von der vielgestaltigen Geschichte dieses Mitteleuropas geprägt ist. Und der schließlich wie eine gigantische Gespenstergeschichte wirkt, so unwirklich, so vergangen und so unglaublich.

Das Breslau Krajewskis ist - so lebendig es auch aus diesem Roman aufsteigt - nichts anderes als eine gigantische Gespensterschau, von der wir heute nicht mehr glauben können, dass das, was sie uns vorführt, einmal Wirklichkeit gewesen sein könnte, wie man korrekter Weise dem fiktionalen Genre zugute halten muss.

Anfang September 1919 werden in Breslau vier grässlich zugerichtete Männer gefunden, die Matrosenmützen und lederne Slips tragen. Ihre Beine sind gebrochen, sie sind mit Stricknadeln ermordet worden, die Augen ausgestochen, offensichtlich zuvor unter Drogen gesetzt. Bei diesen Toten findet sich ein Zettel, auf dem der Kriminalassistent Mock aufgefordert wird, seinen Fehler einzugestehen, ansonsten werde es weitere Morde geben - die dann auch folgen.

Offensichtlich ist der Mörder auf den Spuren Mocks, denn die beiden nächsten Toten sind ein Werftbesitzer und eine Prostituierte, die Mock im Zusammenhang mit den ersten Morden verhört hat. Aber Mock findet seinen Verfolger nicht, zumal er nicht auf der Höhe ist: Er hat furchtbare Alpträume, vor allem, wenn er zuhause schläft, und er säuft ununterbrochen, weil er dann nicht träumt. In jedem Fall ist er mehr und mehr derangiert, und es fragt sich nur, wann dieser desaströse Held selber zum Opfer wird, so wenig kann er seine Schützlinge vor ihrem Mörder bewahren.

Krajewskis Szenerie und Personal sind mit viel Gespür in ein Breslau versetzt, dem die Authentizitätssignale aus jedem Attribut zu springen scheinen. Zwar mutet vieles allzu modern an, die Methoden der Polizei, die Pathologie, die Spurensuche, die Verhörmethoden - aber hier fällt die Entscheidung nicht leicht, ob sich Krajewski den Erwartungen seiner Leser an eine angemessene Verbrechensverfolgung beugt oder ob man den eigenen Vorurteilen über diese frühen Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts auf den Leim geht.

Im Unterschied jedoch zu den deutschen Kollegen lässt Krajewski jenen behäbigen Ton vermissen, der den meisten Texten anhaftet, wenn sie in dieser Ära spielen und versuchen, den angemessenen Zeitkolorit zu treffen. Die Romane von Richard Birkefeld und Göran Hachmeister (zuletzt "Deutsche Meisterschaft") zeigen zum Beispiel dieses Phänomen. Stattdessen ist Krajewskis Ton modern, bissig und hart bis zum Zynismus, ohne dass er je die Simulation aufgeben würde, wir hätten es hier nicht mit den 1910er- oder 1920er-Jahren zu tun. Das ist ohne Zweifel eine große Qualität (die auf beide, Autor und Übersetzerin, zurückzugehen scheint) und befördert die Eindringlichkeit dieses Krimis, der einem arg aufs Gemüt zu drücken vermag.

Auch wenn schließlich die Ursache all des Übels, das Krajewski vorbeidefilieren lässt, wenig plausibel erscheint (eine echte Schwäche des Textes), bis dahin (sie erscheint nämlich gottseidank erst ziemlich zum Schluss) ist dieser Krimi großartig, um nicht zu sagen: "gespenstisch".


Titelbild

Marek Krajewski: Gespenster in Breslau. Kriminalroman.
Übersetzt aus dem Polnischen von Paulina Schulz.
dtv Verlag, München 2007.
316 Seiten, 14,50 EUR.
ISBN-13: 9783423246088

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