"Bin ich nun Schreiber oder Zeichner?"

Die ersten beiden Bände des "Catalogue Raisonné" zu Günter Grass' bildkünstlerischem Werk sind erschienen

Von Jens ZwernemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Zwernemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Annahme, dass es sich bei Malerei und Literatur um eng miteinander verwandte "Schwesternkünste" handelt, avancierte spätestens seit der Renaissance zu einer Lieblingsvorstellung der Ästhetik. Versuche, Produkte des einen Mediums in das andere zu "übersetzen", waren in der Folge mindestens so zahlreich, wie das Auftreten künstlerischer Doppelbegabungen: Während sich etwa D.H. Lawrence neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit mit großer Begeisterung (aber nur mäßigem Erfolg) als Maler betätigte, versuchte sich Pablo Picasso (nicht unbedingt erfolgreicher) auch als Schriftsteller - übrigens sehr zum Missfallen seiner Mäzenatin Gertrude Stein.

Aktuellere Beispiele für dieses neudeutsch wohl als "transmediale künstlerische Kompetenz" zu bezeichnende Phänomen sind beispielsweise die Maler Stephan Kaluza und Cornelia Schleime, die beide bislang je einen Roman vorgelegt haben. Weitaus rarer gesät sind hingegen malende Literaturnobelpreisträger: Odysseas Elytis oder auch Gao Xingjian mögen einem da einfallen und - natürlich - Günter Grass. Dem bildkünstlerischen Werk des letzteren widmet der Steidl-Verlag nun einen umfangreichen, auf fünf Bände angelegten Catalogue Raisonné, von dem mit "Die Radierungen" und "Die Lithographien" unlängst die ersten beiden Teile erschienen sind.

Für Günter Grass selbst hängen seine bildkünstlerische und seine schriftstellerische Tätigkeit eng zusammen: "Publikumsfragen wie 'Sind Sie nun zuallererst Schriftsteller oder Grafiker?' [sind mir] so verständlich wie lächerlich. Meine Antwort kann deshalb nur spielerisch, das heißt abseits vom ernsthaften 'Entweder-oder' ihre Widersprüche entwickeln", konstatierte er 1980 unter der Überschrift "Bin ich nun Schreiber oder Zeichner?" im Kunstmagazin art. Für ihn sind seine Grafiken oftmals "gezeichnete Gedichte", die häufig im Umkreis literarischer Projekte entstehen, ohne jedoch bloße Illustrationen derselben zu sein. Vielmehr erweitern sie seiner Meinung nach die epischen Stoffe "in jene Bereiche [...], die der erzählenden Prosa unzugänglich und nur der Lyrik offen sind".

Dabei vermögen die grafischen Darstellungen ob ihrer größeren Unmittelbarkeit auch als "Prüfstein" für Wortmetaphern und deren "Bestand" zu fungieren, ist ihre Anfälligkeit für "das Geschwätz beliebiger Deutungen" doch wesentlich geringer als die der Literatur. Es ist folglich insbesondere die 'Zeichenhaftigkeit', die Malerei und Literatur - trotz aller medialen Unterschiede - vereint: "Nicht nur, weil Schrift und zeichnerische Linie gleichermaßen grafisch sind, sondern auch aus Gründen der Bildhaftigkeit stehen Zeichnen und Schreiben zueinander in Wechselbeziehung: In der Praxis überschreitet die zeichenhafte Vorstellung die Grenzen künstlerischer Gattungsbestimmung, so irritierend verschieden jeweils das Handwerk und seine Materialien sind."

Thematisch, so Grass, kreisen seine Bilder vor allem um "[d]ie Konfrontation des Gegenständlichen", durch die nicht zuletzt die Seh- und Wahrnehmungsgewohnheiten der Betrachter hinterfragt und das "Niegehörte" sichtbar gemacht werden soll. Dieses Anliegen, so mag man einwenden, ist seit der klassischen Moderne sicherlich längst zu einem ästhetischen Gemeinplatz geworden. Für Grass bedeutet dies jedoch konkret, dass er in einem - zuweilen durchaus anachronistisch anmutenden - Realismus Gegenstände miteinander in Beziehung setzt, die zumindest auf den ersten Blick kaum Gemeinsamkeiten aufweisen. Verbunden durch die Bildkomposition erlangen diese Kombinationen nun aber (im Idealfall) eine Doppelbödigkeit, die gleichsam zu einem ,semiotischen Mehrwert' führt.

So auch im Fall der Schnecken, der Grass'schen "Wappentiere", die in den frühen Radierungen der 1970er-Jahre erstmals auf den Plan treten. Entstanden im Umfeld von "Aus dem Tagebuch einer Schnecke" (1972) zeigen Radierungen wie "Lisbeth mit Schnecken" drei der Kriechtiere, die sich der Vulva der Figur nähern, wohingegen in "Wasserturmschnecke" eine riesenhafte Schnecke den kaum größeren Wasserturm erklimmt. Als Symbol für Langsamkeit mag die eine Allee durchquerende Schnecke in "In Polen unterwegs" die nur im Schneckentempo sich vollziehende Annäherung von Ost und West darstellen und als Monokelersatz in einigen der Selbstporträts den zeitintensiven Prozess der Wahrnehmung aber auch der künstlerischen Umsetzung derselben repräsentieren. Neben Schnecken bevölkern insbesondere diverse Fische - allen voran Aale und der in unterschiedlichen Lebens- und Todesstadien dargestellte Butt - aber auch Ratten das Grass'sche Bestiarium; aus der Welt der Fauna wiederum sind vor allem Pilze populäre Motive, deren Form vom Künstler in Bildern wie dem "Pimmelpilz" eponym übersteigert wird. In der Folge penetrieren dann auch die Pilze, ebenso wie die Schnecken und Aale, diverse Vulvae (vielleicht nicht unbedingt der überzeugendste künstlerische Einfall) und verweisen damit auf das große Thema "Sexualität", das Grass im Jahr 2002 explizit in einer Serie von Lithografien behandelte, die unter solch beredten Titeln wie "Liebe im August", "Heftige Stöße" oder auch "Nach Steilem Aufstieg" kopulierende Liebespaare in zum Teil abenteuerlich anmutenden Verrenkungen darstellen. Dabei gilt - wie in der Kunst ja immer - de gustibus non est disputandum.

All diese Darstellungen präsentieren die beiden opulenten, jeweils mehr als 600 Seiten starken Kataloge zweifellos in bestem Licht und auf bestem Papier: Jeder Grafik wird eine Doppelseite gewidmet, wobei der eigentlichen Darstellung jeweils auf der linken Seite nicht nur die Werkverzeichnisnummer, der Titel, das Erscheinungsjahr und die Auflage gegenübergestellt werden, sondern darunter auch (so vorhanden) Abbildungen von Vorstufen oder begleitenden Darstellungen. Die - medienbedingt wenigen - farbigen Darstellungen werden in der Originalfarbe reproduziert. Schluss mit Großzügig ist allerdings beim Nachwort. Hier hat die Herausgeberin Hilke Ohsoling - ihres Zeichens nicht nur Sekretärin des Künstlers, sondern, in den Worten der "Zeit", auch "Geschäftsführerin des Unternehmens Grass" - auf jedes die Grafiken erläuternde Wort verzichtet und belehrt stattdessen die geneigte Leserschaft über das genaue Herstellungsverfahren von Radierungen beziehungsweise Lithografien. Während diese Informationen sicherlich von jedem entsprechenden Volkhochschulkurs begeistert aufgenommen werden dürften, bleibt unklar, wer wohl genau die Zielgruppe für die höchst überraschenden Hinweise zur Verwendung von Zahlen zwecks Kennzeichnung der Auflagenhöhe sein soll: "Die Auflage ist die Gesamtzahl der Abzüge von einem Motiv. Die Höhe einer Auflage und damit ihre Limitierung wird vom Künstler bestimmt. Die Limitierung wird mit zwei Zahlen, die meist durch einen Schrägstrich voneinander getrennt werden, auf dem Abzug vermerkt. Diese Nummerierung enthält zum einen die Nummer des Blattes innerhalb einer Auflage, zum anderen die Höhe der Auflage - z.B. 9/100 für das neunte Blatt innerhalb einer Auflage von einhundert arabisch nummerierten Blättern." Nachdem damit das wohl letzte Geheimnis der Grafikergilde endgültig gelüftet wurde, steht dann leider für das folgende Ausstellungsverzeichnis und die Biografie des Künstlers weitaus weniger Platz zur Verfügung; folglich werden beide in annähernd mikroskopisch kleiner Schrift präsentiert.

Schlichtweg peinlich hingegen ist die jeweils letzte Seite, die noch so ganz en passant für alle (nun vielleicht neu gewonnenen) Grass-Enthusiasten Internet-Bezugsadressen für dessen Grafiken bereithält. Durch den (wie die übrigen Kataloginformationen auch) auf Deutsch und Englisch beigefügten Hinweis "Eine Preisliste sowie das Verzeichnis der lieferbaren Blätter werden auf Wunsch zugesandt" mutiert der Catalogue Raisonné auf der Zielgeraden unvermittelt zum kostspieligen Verkaufsprospekt mit ebay-Charme. Hat - so dürfte die Publikumsfrage hier lauten - ein Nobelpreisträger das wirklich nötig?

Allen, denen sich die Doppelbödigkeit der Grass'schen Motivik nicht von selbst erschließt (und das wird offen gestanden wohl die Mehrheit sein), seien die ebenfalls bei Steidl erschienenen "Deutungen und Kommentare" zu Grass' grafischem Werk von Peter Joch ("Zaubern auf weißem Papier", 2000) ans Herz gelegt. Joch zeigt dabei durchgängig Parallelen zwischen den schriftstellerischen und den bildkünstlerischen Arbeiten Grass' auf, die nicht selten zu einer "wechselseitigen Erhellung" der einzelnen Werke führen. Doch genau hier scheint der Hase - oder vielleicht eher die Schnecke - im Pfeffer zu liegen: Das Erscheinen eines derart umfangreichen Catalogue Raisonné stellt zweifellos den vehementen Versuch der Kanonisierung des Künstlers dar. Dass Günter Grass einer der wichtigsten deutschen Schriftsteller der Nachkriegszeit ist, wird kaum jemand ernsthaft anzweifeln wollen; ob ihm diese oder eine wenigstens annähernde Position auch im Hinblick auf sein grafisches Werk gebührt, erscheint - vorsichtig gesagt - zumindest fragwürdig. Letztlich wird dabei der "Prüfstein" sein, ob der Katalog eher von denen zur Hand genommen wird, die sich von den Grafiken erhellende Informationen zu Grass' literarischen Arbeiten erhoffen, oder doch von denen, deren primäres Interesse den Grafiken per se gilt.


Titelbild

Günter Grass: Catalogue Raisonné. Band 1: Die Radierungen.
Herausgegeben von Hilke Ohsoling.
Steidl Verlag, Göttingen 2007.
606 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-13: 9783865215659

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Titelbild

Günter Grass: Catalogue Raisonné. Band 2: Die Lithographien.
Steidl Verlag, Göttingen 2007.
740 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-13: 9783865215666

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