"Das Primärgefühl der Fassungslosigkeit bewahren"

Saul Friedländer erläutert seine Geschichtsschreibung des Nationalsozialismus

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist nicht lange her, so erinnerte Nicolas Berg in seiner ebenso umfangreichen wie vorzüglichen Arbeit über den "Holocaust und die westdeutschen Historiker" (Wallstein 2003), dass Historikern mit jüdischem Hintergrund in Deutschland ein besonderes Misstrauen entgegengebracht wurde: kann ,so einer', das heißt jemand, der dem Kollektiv der Verfolgten und Ermordeten zuzurechnen ist oder vielleicht sogar selbst verfolgt wurde, wissenschaftlich, ,sachlich' und ,emotionslos' über den Nationalsozialismus schreiben? Dass sie selbst einem beteiligten Kollektiv angehören und dies auch die eigene wissenschaftliche Sicht auf den Holocaust trüben könnte, ist ein Gedanke, auf den deutsche Historiker selten kamen. Sie pflegten das "Pathos der Sachlichkeit".

Saul Friedländer ist Jude und wurde verfolgt. Sein opus magnum, "Das Dritte Reich und die Juden", musste nicht viele Jahre darauf warten, ins Deutsche übersetzt zu werden, wie so manch andere Geschichte des Holocaust. Für sein Werk erhielt er im letzten Jahr den "Friedenspreis des deutschen Buchhandels" und man findet es im Angebot der "Bundeszentrale für politische Bildung". Das Besondere an seiner Version einer möglichen Geschichtsschreibung des Nationalsozialismus besteht darin, die Perspektive der Opfer mit einzubeziehen.

Die Juden nicht nur als passives Objekt deutscher Verfolgung vorkommen zu lassen, findet sich in Ansätzen bereits in Leni Yahils hervorragender (und natürlich schon wieder vergriffener) Gesamtdarstellung "Die Shoah" (Luchterhand 1998). Friedländer aber geht weiter: aus einer Masse von Tagebüchern, Briefen und ähnlichen persönlichen Dokumenten schildert er den Holocaust aus der Sicht der Betroffenen. In dem vorliegenden kleinen Band kann man auf engem Raum Friedländers methodischen Zugriff auf den Nationalsozialismus theoretisch begründet und am historischen Material ausgeführt nachvollziehen. Zwei der sechs Beiträge sind Gespräche. Eines hiervon ist ein großes fiktives Interview, das aus mehreren realen kleinen zusammengeschnitten wurde, das andere ein Podiumsgespräch, das leider vorzugsweise Harald Welzer eine Bühne bietet. In den vier Aufsätzen klärt Friedländer zwei seiner bekanntesten Begriffe, nämlich "integrierte Geschichte" und "Erlösungsantisemitismus" und erörtert von hier aus die Themenkomplexe, die er auch sonst stets umkreist, nämlich, was die Deutschen zur Zeit des Nationalsozialismus von der Judenvernichtung wissen konnten, wieso diese im Mittelpunkt einer Darstellung des Nationalsozialismus stehen muss und wie man ihr Grauen schildern kann, nachdem man zu dem Schluss gekommen ist, dass man es darstellen muss.

"Integrierte Geschichte", das bedeutet bei Friedländer, die Perspektive von Tätern und von Opfern in einer Darstellung zu vereinen. Der Holocaust bestand nicht nur aus Entscheidungen und Maßnahmen von Deutschen, sondern ebenso aus den jüdischen Wahrnehmungen und Reaktionen darauf. Aber es geht Friedländer nicht um Vollständigkeit um ihrer selbst willen. Mit dem Konzept einer "integrierten Geschichte" hofft er, eines der großen Probleme bei der Beschäftigung mit dem Holocaust zu lösen, nämlich ihn sich nicht vorstellen zu können. Die Wahrnehmung der Größe der Tat und ihrer Komplexität soll durch die Darstellung von simultanen Ereignissen auf allen Ebenen verbessert werden. Mit der Betonung der Opfer-Perspektive verfolgt Friedländer nicht das Projekt einer Gegengeschichte, er schreibt Geschichte nicht einfach nur andersherum. Zwar ergänzt er die bisherige Geschichtsschreibung, fügt aber nicht einfach nur einen Aspekt hinzu, der bislang vielleicht einfach nur vergessen oder übersehen worden wäre. Er gibt gleich zu, dass seine Geschiche des Holocaust "nicht darauf angelegt ist, neue Fakten zu entdecken", aber dass sie zu "vergleichenden Fragestellungen" führe und "allgemeine Zusammenhänge" zeige.

Es gibt berechtigte Bedenken gegen subjektive Schilderungen: sie sind nicht allgemeingültig, stellen nur Wahrnehmungen, keine Fakten dar; sie könnten verzerrt und parteiisch sein. Die bisherige Sicht auf den Holocaust allerdings geht quasi den Weg der Täter nach, verfolgt das Labyrinth ihrer Entscheidungen und Maßnahmen und lauscht ihren fanatischen oder sachlichen antisemitischen Tiraden. Man schaut aus Täter-Sicht auf die Judenverfolgung und auf die Juden. Aber dies ist noch nicht alles. Man schaut nicht nur gleichsam durchs Täter-Auge auf das Geschehen, sondern dieses Geschehen selbst ist bereits einer bestimmten Darstellung und Interpretation unterzogen worden (siehe hierzu auch die Besprechung von Dirk Rupnows Buch in dieser Ausgabe). Der ,sachliche', ,saubere', wenn auch harte und mörderische Vollzug der nationalsozialistischen Judenpolitik wurde von den Tätern selbst inszeniert. Deren wissenschaftliche Beschreibung spiegelt so das eigene Wunsch-Selbstbild. Nun wird klar, wieso es notwendig ist, die Opfer-Perspektive hinzunehmen. Sie fügt nicht nur einige Mosaiksteine hinzu, sie gibt nicht bloß eine mögliche andere Sicht, sondern sie bricht mit dieser falschen Perspektive.

Aus ähnlichen Erwägungen plädiert Friedländer für die Darstellung des Grauens. Es gibt auch hier berechtigte Einwände dagegen: Zum einen läuft man Gefahr, Voyeurismus und Sensationslust zu bedienen. Zum anderen droht man, in Gräueltaten unterzugehen, so dass man sich nicht mehr darum bemüht, einen historischen Prozess zu verstehen, sondern in Emotionen ausweicht, so dass die übergeordnete Perspektive verloren geht. Die Betonung der technischen Verfahrensweise und der administrativen Vorgänge war sicherlich ein Fortschritt gegenüber der Personalisierung des Verbrechens und der Dämonisierung der Täter. Dabei ging aber das Pathologische der Tat verloren - und die Täter gleich mit. Die massenhafte Beteiligung von ganz normalen Deutschen am Holocaust wurde nicht einfach nur aus Gründen des besseren Verständnisses nicht beschrieben, sondern gar nicht erst erforscht. Die Kritik am voyeuristischen Blick auf den Exzesstäter verdeckt auch gleich, dass der Exzess normal war, dass bei den Erschießungen von Hunderten bis Tausenden von Juden mitunter eine "Stimmung wie beim Schützenfest" (Klaus-Michael Mallmann) herrschte.

Zur massenhaften Beteiligung an den Verbrechen gehörte auch das Zuschauen, Goutieren und Abfotografieren. Dies ist nur ein Aspekt, den Friedländer heranzieht, um den durchweg guten Kenntnisstand der Deutschen vom Holocaust zu belegen. Ihre Haltung zur Judenpolitik ist ein weiteres wichtiges Element von Friedländers "integrierter Geschichte". Die Deutschen waren aus verschiedenen Quellen ziemlich gut informiert und sie konnten aus den öffentlichen Verkündigungen ihrer geliebten Führung des weiteren ihre eigenen Schlüsse ziehen. Aber sie waren gleichgültig gegenüber den Vorgängen im Osten und vor ihrer eigenen Haustür - und nicht nur das. Bezug nehmend auf Michael Wildts Studie "Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung" (Hamburger Edition 2007) erinnert er daran, "daß die alltägliche antijüdische Gewalt unter den Deutschen verbreiteter war, als lange angenommen".

Die Typologisierung des Antisemitismus hat Friedländer um die Kategorie des "Erlösungsantisemitismus" bereichert. Er versteht hierunter die "radikalste Form des Judenhasses", in der der Antisemitismus mit einer "Erlösungs- und Untergangsideologie" verschmolzen wurde. Wenn er auch nicht von einem jeden einzelnen Deutschen vertreten wurde, so wurde er im "Dritten Reich" doch praktiziert. Wenn auch hunderttausende einzelne Täter mit ihm ihre verschiedenen eigenen größeren oder kleineren Interessen verfolgen konnten, so war er insgesamt doch "nicht nur Mittel zum Zweck". Viele verschiedene Motive waren geeint durch "eine treibende Kraft": Adolf Hitler.

Friedländer fällt damit aber nicht in den Intentionalismus zurück, der der Weltanschauung zwar Bedeutung beimisst, sie aber nur bei der Führung thematisiert. Es ist die Eigenheit des NS-Staats, dass alle Einzelinteressen der Partei sich dem "Führerwillen" unterordnen mussten und wollten. Durch diese besondere Form der Herrschaftsorganisation konnten Hitlers Motive verallgemeinert und von jedem Deutschen zu seiner eigenen Sache gemacht werden. Die in Partei und Staat konkurrierenden Einzelinteressen konnten über den Antisemitismus umgesetzt und synthetisiert werden. Im Antisemitismus wurden sie unter dem "Führerwillen" allgemein.

Der Titel "Das Dritte Reich und die Juden" verknüpft nicht zwei beliebige Subjekte. Man kann viele andere Aspekte des "Dritten Reichs" beleuchten, aber wer es verstehen will, wer auch nur irgendetwas darüber sagen will, der wird um die Judenverfolgung nicht herumkommen. Nicht weil sie nicht zu übersehen ist, auch nicht aus moralischen Gründen, sondern weil sie sein Daseinsgrund war und es im Inneren zusammenhielt. Das Bemühen um die totale Erfassung der Juden, das macht Friedländer immer wieder klar, steht immer irgendwie quer zu allen Erklärungsversuchen, die die Judenverfolgung nicht in den Mittelpunkt stellen, sondern sie als Mittel zu einem anderen Zweck zu beweisen suchen.


Titelbild

Saul Friedländer: Den Holocaust beschreiben. Auf dem Weg zu einer integrierten Geschichte.
Wallstein Verlag, Göttingen 2007.
173 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783835301856

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch