Literatur als Scharnier

Wolfgang Bunzels Einführung in die Literatur des Naturalismus

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Zeit um und nach 1900 erlebte eine Vielfalt miteinander konkurrierender und einander immer schneller ablösender literarischer Bewegungen, so dass es nicht ganz leicht fällt, einen bestimmten Epochenbegriff auf sie anzuwenden. An ihrem Anfang aber stand jedenfalls ein Ende; das des Naturalismus.

Nach mehr als drei Jahrzehnten liegt nun eine neue, von Wolfgang Bunzel verfasste Einführung in diese etwa von den 1870er- bis in die 1890er-Jahre hinein prägende literarische Strömung vor. Er möchte den Naturalismus allerdings nicht als Epoche verstanden wissen, sondern spricht lieber von einer "Diskursformation", die in einen "größeren literaturgeschichtlichen Epochenzusammenhang" eingebettet sei, deren "Status und Eigenart" darin liege, das "realistische Paradigma" sowohl "weiter[ge]führt" wie auch "mindestens partiell" überwunden zu haben. Denn "insbesondere die vom 'konsequenten' Naturalismus betriebene literarische Mimikry sprachlich vorgefundener Realität" habe zu einer "Entsemantisierung des Zeichenmaterials" geführt, die eine "Brücke" zum Ästhetizismus der klassischen Moderne schlug, wie eines seiner zahlreichen Bilder für die "historische Scharnierfunktion" des Naturalismus lautet, der "präzise die Nahtstelle zwischen der ersten und der zweiten Phase der Makroperiode Moderne markiert" habe.

Bunzels Einführung gliedert sich entsprechend den Vorgaben der bei der "Wissenschaftlichen Buchgesellschaft" erscheinenden Reihe "Einführung Germanistik" in einen Forschungsbericht, zwei Abschnitten über epochengeschichtlichen "Kontexte", die Theorie, Geschichte und Verflechtungen der literarischen Strömung sowie abschließenden "Einzelanalysen repräsentativer Werke".

Nur wenige dem Naturalismus zuzurechnende AutorInnen sind kanonisiert. Bunzel will "im Grunde nur Gerhart Hauptmann" und "mit Einschränkungen" das "Autorengespann" Arno Holz und Johannes Schlaf gelten lassen. Dies habe, ebenso wie die wissenschaftliche "Zuwendung", die der Naturalismus während der nationalsozialistischen Diktatur erfuhr, dazu beigetragen, dass er nach 1945 für die Germanistik nur noch von randständigem Interesse war.

Wie der Autor darlegt, entwickelte sich der deutsche Naturalismus als Reaktion auf eine dreifache, "den Fortbestand der literarischen Kultur existentiell gefährdende" Bedrohung: Die "angestammte Bedeutung der Literatur" wurde seit den 1870er-Jahren zunehmend durch eine "tendenziell kunstfeindliche Haltung des Besitzbürgertums" gefährdet. Zudem wurde die Literatur durch den "universalen Geltungsanspruch" der konkurrierenden Naturwissenschaften zunehmend in eine "Legitimationskrise" gestürzt, wie Bunzel mit Helmut Scheuer sagt. Hinzu trat drittens die "mediengeschichtliche Herausforderung" durch die neuen "Bild- und Tonaufzeichnungsapparaturen". Der Naturalismus reagierte mit einem Programm, das drei Elemente kennzeichnete: Die Literatur solle erstens realitätsnah, zweitens wahrhaftig sein und drittens "unreglementierte Ausdrucksmuster" entwickeln.

Auch in den Entwicklungsphasen des Naturalismus erkennt Bunzel eine Trias. Die erste, von den ausgehenden 1870-er Jahren bis 1884, sei durch "polemische Kampfschriften" und "lyrische Texte" charakterisiert gewesen. Abgelöst worden sei sie durch "ästhetische Standortbestimmungen" und die "Dominanz der Erzählprosa", welche die zweite Hälfte der 1880er-Jahre prägten. In der dritten Phase seien zwar auch "experimentelle Prosaformen" entwickelt worden. Doch habe nun vor allem "das Drama dominiert". Sie endete mit den 1890er-Jahren.

Maximilian Harden hatte 1890 mit seiner Formel "Naturalismus = Panphysismus im Gegensatz zum klassisch-romantischen Theismus und Pantheismus" eine, wie Bunzel sagt, "doppelte Frontstellung zu jeder Art von Metaphysik" entworfen, an deren Stelle er einen "diesseitsorientierte[n] Empirismus" setzte, dem Natur als "hochkomplexes, lückenloses Bedingungsgefüge in der Art eines selbstorganisierenden Systems" galt, das "unumstößliche[n] Ablaufregeln" gehorchte. Diese zu entdecken und darzustellen war nach Auffassung des Naturalismus nicht nur eine Aufgabe der Wissenschaft, sondern ebenso wohl der Kunst. Dies galt sowohl für soziale wie auch für emotionale Phänomene.

"Erfasst werden soll jeweils ein ganzer Verhaltenshabitus, der das Ineinandergreifen biologischer Prägefaktoren und sozialer Normen bezogen auf Körper und Psyche eines einzelnen erkennbar macht." Bekannter noch als Hardens Formel wurde jedoch diejenige von Arno Holz: "Natur = Kunst -x", in der die Variable x, wie Bunzel erläutert, für "die 'Reproduktionsbedingungen und deren Handhabung' steht und niemals völlig zum Verschwinden gebracht werden kann."

In einem Abschnitt zu den "Austauschbeziehungen zwischen Gesellschaft und Literatur" geht der Autor näher auf das Verhältnis des Naturalismus zur Sozialdemokratie ein. Dieser war die literarische Strömung zwar durch die lange Liste ihrer verbotenen Werke verbunden, denen unter anderem Blasphemie, Obszönitäten und natürlich Majestätsbeleidigung vorgeworden wurden. Doch lehnten ihre VertreterInnen jegliche Versuche der Sozialdemokratie vehement ab, ihre Werke zu "einem bloßen Vehikel von Parteiinteressen zumachen".

Im gleichen Abschnitt wirft der Autor auch einen Blick auf die Beziehungen der NaturalistInnen zum seinerzeitigen Feminismus. Bunzels Kenntnisse der Frauenbewegung sind dabei jedoch allenfalls rudimentär. So definiert er die 'sozialistische Frauenbewegung' und die bürgerlich-gemäßigte zwar inhaltlich - diese sei "vor allem für eine Verbesserung der Bildungsmöglichkeiten für Frauen und die Anerkennung weiblicher Erwerbsarbeit" eingetreten, jene habe eine "vollständige Abschaffung patriarchalischer Sozialstrukturen und des Kapitalismus als Wirtschaftsform" angestrebt -, nicht so jedoch den bürgerlich-radikalen Flügel. Über ihn weiß er nur zu sagen, dass er "in Einzelfragen meist mit einer dieser beiden Fraktionen [paktiert]" habe. Das ist denn doch allzu mager und lässt die durchaus vorhandenen inhaltlichen Besonderheiten dieser Strömung außer acht. Weiter führt er aus, bei "vielen Frauen, die in bürgerlichen Verhältnissen lebten und davor zurückschreckten, sich politisch zu exponieren und offen für ihre Rechte einzutreten", sei das "Bedürfnis" gewachsen, "stärker am öffentlichen Leben teilzunehmen". Hierzu hätten ihnen "Kunst und Publizistik [...] am ehesten eine Möglichkeit" geboten. "Und so lässt sich denn in den letzten beiden Dekaden des 19. Jahrhunderts ein eklatanter Anstieg der Zahl literarischer und journalistisch tätiger Frauen verzeichnen." Damit insinuiert Bunzel, diese Autorinnen seien keine genuinen Künstlerinnen oder Schriftstellerinnen. Vielmehr handele es sich bei ihren Werke nur um Erzeugnisse einer aus (typisch weiblicher) Angst erfolgten Ersatzhandlung.

So verbannt Bunzel denn auch die dem Naturalismus verbundene Autorinnen in ein unter dem Titel "Naturalismus und Frauenbewegung" stehendes und weniger als fünf Seiten umfassendes Kapitel. Dort zählt er schnell fünfzehn naturalistische Autorinnen auf (unter ihnen erfolgreiche Autorinnen wie Gabriele Reuter, Clara Viebig und Helene Böhlau), ohne auch nur ein einziges ihrer Werke zu nennen oder gar der näheren Beschäftigung für Wert zu erachten. Irgendetwas Nennenswertes geleistet haben die Autorinnen des Naturalismus nicht, lautet die implizite Botschaft dieses Abschnitts, wie auch des ganzen Buches. Da hilft es auch wenig, dass Bunzel an sechs oder sieben über das Buch verstreute Stellen Elsa Bernsteins Stück "Dämmerung" erwähnt.

Die Ehre einer "Einzelanalyse" eines ihrer Werke gewährt Bunzel jedenfalls keiner der Autorinnen. Sie wird nebst einigen lyrischen Texten, Werken von Max Kretzer, Arno Holz und Johannes Schlaf, Gerhart Hauptmann sowie schließlich Max Halbe zuteil.


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Wolfgang Bunzel: Einführung in die Literatur des Naturalismus.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2007.
144 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783534200092

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