Einmal Budapest - Wien und zurück

Ingo Schulze präsentiert drei Protokolle einer Zugfahrt

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Drei Geschichten, die sich aufeinander beziehen - drei Schriftsteller, die mit der Bahn von Budapest nach Wien fuhren und jeder auf seine Art ein Abenteuer erlebten - drei spannende Protokolle werden in Ingo Schulzes Buch "Eine, zwei, noch eine Geschichte/n" miteinander verknüpft.

Das Buch verspricht viel, denn niemand Geringeres als Imre Kertész, der 2002 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, begibt sich als Erster der Autoren auf die Gleise. Kertész steigt in die Bahn und wird von einem ungarischen Zöllner wegen angeblich falscher Deklarierung von ausländischen Valuta im Grenzort Hegyeshalom aus dem Zug geworfen, wird Opfer einer "mechanisch sich vollstreckenden Dummheit". Er schimpft auf die Sturheit des Zöllners, der seine Bahnfahrt unterbricht, ihn demütigt und schließlich zur Aufgabe und Rückreise nach Budapest zwingt.

Kertész stellt sich mit seinen Werken gegen das System der Diktatur im Ganzen und zu jeder Zeit. Die Nobelpreis-Jury betonte 2002, Kertészs literarisches Werk erforsche die Möglichkeit, noch als Einzelner in einem Zeitalter zu leben und zu denken, in dem die Menschen sich immer vollständiger staatlicher Macht untergeordnet hätten. Auschwitz ist für ihn keine Ausnahmeerscheinung; es ist die letzte Wahrheit über die Degradierung des Menschen im modernen Dasein. Und so hört Kertész hinter den heimtückischen Fragen des Zöllners im Zug "das Dröhnen von Stiefeln, das Schmettern von Kampfesliedern und das Schrillen von Türklingeln im Morgengrauen." So wird die einfache Bahnfahrt von Budapest nach Wien zu einer schrecklichen Erinnerung an das Grauen, das er im Nationalsozialismus erleben musste.

Péter Esterházy reist dieselbe Strecke ein Jahr später, von Rückenschmerzen geplagt und sich erst in dem Moment an Kertészs Geschichte erinnernd, als der Zöllner die ominöse Frage nach den mitgeführten Valuta stellt. Nervös kramt Esterházy in seiner Tasche und weiß nicht, was er sagen soll. Doch der Zöllner ist gar nicht an ihm interessiert, nach einem kurzen Blick murmelt er nur, Esterházy "solle künftig auf den Nennwert der Scheine achten". Kein Rauswurf, keine Erinnerung an Stacheldraht und Militärpolizei, die Reise kann fortgesetzt werden. Und doch ist die Furcht in ihm, er bleibt eingeschüchtert sitzen, spähend wie ein wildes Tier.

Ingo Schulze nun nahm abermals den Zug von Budapest nach Wien, "weil vielleicht ein drittes Mal 'etwas' passiert, das sich den beiden anderen Geschichten logisch hinzufügen lässt", schreibt die "Süddeutsche Zeitung". Schulze will selbst erleben, was in dem Reisenden vor sich geht, der an der Grenze kontrolliert wird. Er "gesteht, sich in den Zug gesetzt zu haben wegen dieser Geschichten". Er wollte "sich auf beide Geschichten beziehen und eine Art vergleichendes Stationendrama erstellen. Jeder Satz der beiden Vorbilder erschien ihm so bedeutsam wie Frage und Antwort in einer Liturgie".

Die Zeit hat sich verändert; seine Zugfahrt wird nicht unterbrochen, die Zöllner bleiben aus. Die Fahrt ist bei Schulze die reine Bewegung von A nach B - ganz wie in dem amerikanischen Liebesfilm "Before Sunrise", der just mit dieser Bahnfahrt von Budapest nach Wien beginnt. Mit der Ankunft in Wien schließt er Kertészs und Esterházys Erfahrungen ab und beendet, was sie begannen. Das Buch wird so zu einem intelligenten Zirkelschlag, der sich zu lesen wahrlich lohnt.


Titelbild

Imre Kertész / Péter Esterházy / Ingo Schulze: Eine, zwei, noch eine Geschichte/n.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Kristin Schwamm und Hans Skirecki.
Berlin Verlag, Berlin 2008.
95 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783827007872

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