Gefühlte Zeit fünf vor zwölf

Franz Doblers Roman über das Aufräumen und Austicken

Von Nicole SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nicole Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Austickender Mann in der Straßenbahn", damit geht es los. Franz Doblers neue Hauptfigur Beat führt ein Leben, in dem sich Grenzsituationen aneinanderreihen. Doch Dobler hat hier nicht irgendeinen Loser der Gesellschaft entworfen, der in einem Sumpf von Drogen, Sex und Kriminalität umherirrt, wie man das erwarten würde. Der Charakter Beat ist, trotz seiner Arbeit für Pornoproduzenten und seiner Flucht aus der Vaterrolle, zugleich das, was sich der Leser unter einem Mann mit moralischen Prinzipien vorstellt.

Dass er dennoch nicht nur selbst dauernd in einem Zustand der Gereiztheit und Anspannung ist, sondern dass auch die übrigen Menschen um ihn herum gewagt an verschiedensten Grenzen entlang schlittern, entwirft eine Stimmung des drohenden, des unabwendbaren und auch des unangenehm nachvollziehbaren Amoks. Das Typische am Amok ist das Unerwartete, das anfallartig Ausbrechende - und genau das könnte in diesem Buch in jeder Form von jeder Seite kommen. So wundert es den Leser nicht, dass Beat in paranoider Voraussicht eine Waffe bei sich trägt - auch damit wirkt er noch mehr als ungeschützt in einer Welt aus Unsicherheit, die voller Menschen ist, in deren Innerem aus Frustration und Anspannung kleine Zeitbomben wachsen: "Beat ist nicht überrascht, als der Ausgetickte explodiert". heißt es gleich auf der zweiten Seite des Romans.

Die Eskalationen sind stets präsent, nicht immer in der Realität zwar, doch in Beats Kopf. Er liest Bücher über Amokschützen und Serienmörder und denkt beinahe zwanghaft an Horrorszenarien, die entstehen könnten.

Die lieben Mitmenschen sind "stumm, schauen düster, weiße Trash-Teenager in der alkoholfreien Problemzone am Mittag." Oder gefeuerte Abteilungsleiter kurz vor dem Ausflippen, verschleierte Frauen, anonyme Passanten. Es sind "die munteren Jungs von den Beratungsagenturen für mangelhaft designte Smokeshops" und "der moderne gesunde Clown in der Jurymitte" einer Talente-Show. Die Menschen in einer Gesellschaft zu beschreiben, reicht aus, um das Bild dieser Gesellschaft zu entwerfen und zugleich mit Untertiteln zu versehen. "Der Faktor Zeit fühlt sich langsam bedrohlich an." Dieser Satz fasst die Stimmung des Buches sehr gut zusammen. Und was dieses Gefühl angeht, ist Beat, der Außenseiter, einer von vielen, die es haben: "Kein Problem, ich habe Zeit, sagt Beat. Seine innere Uhr tickt anders, er ist unruhig."

So wandert Beat übermüdet von der Arbeit durch seinen Tag und stellt sich die Frage: "Jeder gibt irgendwann auf - aber wann?" Und er selbst? Wird er zum Amokläufer werden, zu einem, der durchdreht und so richtig aufräumt? Beat beschließt, in seinem Leben zunächst auf andere Art und Weise reinen Tisch zu machen. Er kündigt Jobs, gibt Freunde auf, die schon lange keine mehr sind. "Zu viel zu lange mitgemacht - was macht man, wenn man nichts mehr mitmachen will?" Zunächst besinnt er sich auf die wenigen Freunde, die er wirklich noch hat: einen sterbenden manisch-depressiven Schriftsteller, einen kurdischen Gastwirt und einen Türken, der gerade dem Ruf der Familienehre in die Heimat gefolgt ist. Auf dem Weg zu diesen Freunden, den letzten Anlaufstellen, die er im Meer der Unsicherheiten noch findet, trifft er dann Monika, eine Frau, die ihm die Stirn bieten kann und Platten auflegt wie er. Eine Frau, die er gerne beschützt, wenn er schon sich selbst nicht gut beschützen kann, wie er sagt.

Doblers Buch ist vielseitig insofern, als dass es zu zahlreichen Themen und Erscheinungen unserer Zeit einen Kommentar abgibt. Und das ist stets sehr prägnant und schön zu lesen. "Fernsehschrott, alles nur noch eine Party von Geldanlegern für Geldanleger", heißt es da oder auch über moderne deutsche Musik: "einfach nur dummes deutsches Geschnatter, das in der Mitte des Mittelmaßes herumliegt und im besten Fall seufzt, ach, heute fühle ich mich aber doch ein wenig wild."

Beat beobachtet die Welt, in der er lebt, und liest zwischendurch in dem Buch über Amok. Weil es sich ergibt - und nicht etwa aus Lust - hat er Sex mit einer Mitbewohnerin, und liefert ebenso lustlos Musikbesprechungen für eine Redaktion ab. Und obwohl er als Mittvierziger das Leben eines Underdogs führt, entspricht er dem Klischee doch nur auf den ersten Blick. Gerade die Widersprüche machen ihn sympathisch und geben dem Leser das Gefühl, selbst einen Beat zu kennen. Denn eigentlich, das wird beim Lesen klar, sind wir doch alle, jeder auf seine Art, ein Underdog in dieser Gesellschaft, einer, der ungern wartet, doch von den Umständen zum Warten gezwungen wird. Einer, der sucht, dessen Fragen nicht beantwortet werden. Einer, der zu denen gehört, auf die vielleicht schon morgen verzichtet werden kann. Das alles sind alte Themen und doch von Dobler so eigen und frisch aufbereitet, mit einer wunderbar melancholischen Sprache versehen, die viele Ausflüge ins Aggressive und ins Depressive macht, und mit absurd anmutenden Action-Szenen wie aus alten James Bond-Filmen dekoriert, die - und das kann nur Dobler - dennoch glaubwürdig sind.

Wirklich weh tut ein Fehler, den das Lektorat hätte bemerken müssen: Die Randfigur Yvonne ist auf einer Seite noch eine Sandra, deren Name wahrscheinlich den Sarahs und Sallys und Sabines in dem Buch zuliebe in Yvonne umgewandelt wurde. Das ist wie ein Krimi, bei dem der Erschossene, noch lebendig, in einem gelben Hemd die Wohnung betritt, später aber in einem blutverschmierten grünen Hemd aufgefunden wird. Gerade bei einem Buch, das so sehr an Gangster-Filme erinnert, ist das schade.

Das Einzige, was sonst stört, ist die starke Betonung der Liebesgeschichte in den letzten Kapiteln des Buches. Zwischen dem Helden und seiner Angebeteten wird viel hin- und her geredet, viel vermutet und richtig gestellt, viel gefühlt und viel geklärt. Das alles steht im Buch sehr sympathisch und lebensecht, aber eben doch zu lange und zu detailliert. Noch einige Ausflüge alleine von Beat durch die Straßen der Stadt, noch eine Handvoll Kommentare zu gesellschaftlichen Themen, ein weiterer Besuch bei einem seiner Freunde - das wäre schöner und interessanter gewesen.

Doch der Autor ist eigensinnig genug, um auf der genauen Beschreibung der Anfangsphase dieser Liebe zu bestehen. Und das, obwohl dadurch viele Möglichkeiten, Begonnenes, Angesprochenes, Angedachtes weiterzuspinnen, verschenkt werden. Vielleicht im nächsten Buch, denkt der Leser und verbleibt in Achtung vor einem Autor, der die Selbstsicherheit besitzt, manche Themen noch ungeklärt ins weitere Schreiben hinein mitzunehmen.


Titelbild

Franz Dobler: Aufräumen. Roman.
Verlag Antje Kunstmann, München 2008.
206 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783888975073

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