Do it like Kafka
Über Ulrike Almut Sandigs Lyrikband "Streumen"
Von Andreas Hutt
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Streumen ist ein beweglicher Ort... Unsicher ist auch die Anzahl der Streumenden. Es handelt sich um uns. Wir streumen vor lauter Sehnsucht", heißt es zu Beginn des zweiten Lyrikbandes von Ulrike Almut Sandig. Damit ist klar, dass es der Autorin nicht um das gleichnamige Dorf in Sachsen geht, es geht ihr um die Schaffung eines imaginären Ortes, um ein ästhetisches Konstrukt, das den Weg aus ihrer Fantasie zum Leser findet. Ein hoher Anspruch, den die 28-jährige Dichterin da erhebt.
Um ihren poetischen Ort erschaffen zu können, wählt Ulrike Almut Sandig ein Vokabular von einer Schlichtheit, die man sonst nur von Kafka kennt. Sie beschränkt sich auf elementare Begriffe ("kind, tische, schatten, schauen, gehen"), und diese Restriktion macht einen Großteil der ästhetischen Wirkung ihrer Gedichte aus. Der Leser findet kaum Fremdwörter, kaum technische Bezeichnungen, kaum Nominalisierungen, und wenn doch (wie das Wort "display" im Gedicht "blau sein"), dann fallen sie sofort ins Auge und wirken wie Fremdkörper.
So kontrolliert Ulrike Almut Sandig ihr Vokabular handhabt, so sehr nutzt sie die Möglichkeiten der deutschen Grammatik, um einen Text besonders, um nicht zu sagen interessant, zu gestalten - gerade auch was die Gedichtanfänge betrifft ("war der tisch, war der stuhl" beginnt das gleichnamige Gedicht oder, wie es in "umgraben" heißt: "die beeren im schatten, die wurzeln, in erde gestoßen auf weiches"). Dadurch wird der Leser unmittelbar in ein Gedicht hineingezogen, ist sofort für einen Text sensibilisiert. Die Gedichte entwickeln dadurch eine innere Spannung, die über den gesamten Band hinweg trägt.
"Streumen" besteht aus den beiden Hauptkapiteln "von fehlenden zeugen" und "von der geschwisterlichkeit der mauersegler", unterbrochen von dem Kapitel "schnitt", das ebenso wie der letzte Abschnitt "bleiben" nur einen einzigen Text enthält.
Zu Beginn des Kapitels "von fehlenden zeugen" betrachtet das lyrische Ich teilnahms- und kommentarlos Ereignisse, wie sie sich im realen Dorf Streumen zugetragen haben könnten. Später tritt oft eine zweite Person hinzu, das "ich" wird zum "wir". Dennoch bleiben die Texte inhaltlich realen Situationen verpflichtet. In der "geschwisterlichkeit der mauersegler" verstärkt sich die Tendenz, Zwischenmenschliches zu thematisieren, das sich, wie der Titel des Kapitels besagt, auf einer geschwisterlichen Ebene abspielt. Hier wird kein Eros zelebriert, sondern Verbundenheit. Die Texte werden rätselhafter, hermetischer, die Autorin verwendet mehr Metaphern ("dieser hunger ist der rest eines alten versprechens" oder "im späteren leumund kreisen glühende käfer in der hecke zur straße").
Fast über die gesamte Länge des Bandes hinweg gelingt es Ulrike Almut Sandig ihr Niveau zu halten. Lediglich am Ende des Buches befinden sich einige schwächere Texte. Gedichte, wie zum Beispiel "blau sein" - "nicht blau sein" oder "hund sein", können die Faszination der vorangehenden nicht im Leser hervorrufen - es fehlt hier an einem Moment, das Spannung erzeugt: an einer komplexeren grammatischen Konstruktion oder ungewöhnlichen Metaphern.
Am Ende bleibt zu sagen, dass Ulrike Almut Sandig ihrem selbst gewählten Anspruch gerecht wird: Streumen ist ein Wunschort geworden, der die Fantasie des Lesers anzuregen vermag, ein wahrhaft poetischer Ort.
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