Wolfgang Hilbigs Zwischenwelten

Eine "motivische Biografie" von Karen Lohse

Von Jörg SchusterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Schuster

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der vor einem Jahr in Berlin gestorbene Dichter Wolfgang Hilbig galt als Ausnahmeerscheinung im deutschen Literaturbetrieb; als einem der vielleicht letzten gelang es ihm, die Tradition der 'klassischen' Moderne Edgar Allan Poes, Charles Baudelaires und Franz Kafkas auf produktive und völlig eigenständige Weise fortzuführen. Dennoch ist die Forschungsliteratur zu diesem Autor bislang noch sehr überschaubar.

Bei der nun vorliegenden Monografie von Karen Lohse handelt es sich nach deren eigenen Angaben um "eine erste biografische Annäherung an Wolfgang Hilbig und sein literarisches Lebenswerk". Lohse geht es dabei weniger um eine chronologische Aneinanderreihung von Lebensstationen, der Schulzeit und Lehre als Bohrwerksdreher im Heimatort Meuselwitz, der Arbeit als Heizer in Industriebetrieben, dem Kontakt zur subkulturellen Szene der DDR und schließlich dem literarischen Erfolg und der Übersiedlung in den Westen. Vielmehr stellt die Autorin Grundmotive von Hilbigs literarischer Existenz in den Vordergrund, die ihn selbst als Angehörigen jener Zwischenwelten erscheinen lassen, die für sein Werk konstitutiv sind. Prägend ist in diesem Sinne bereits das Brachland des mitteldeutschen Braunkohlereviers, das - zwischen Industrialisierung und Sekundärwildnis changierend - Hilbigs morbid-faszinierende Seelenlandschaft bildet. Beruflich befand sich der Autor im Zwiespalt zwischen der Existenz als Arbeiter und als Literat. Jahrelang produzierte er, neben seinem Beruf als Industriearbeiter, geradezu manisch 'für die Schublade'; dem DDR-Ideal des proletarischen Schriftstellers, dem er äußerlich ironischerweise völlig entsprochen hätte, stand er aufgrund seiner ästhetischen Positionen und seiner Distanz zum politischen System diametral entgegen. Weder im kleinbürgerlich-proletarischen Milieu seiner Herkunft noch in intellektuell-literarischen Zirkeln fühlte er sich zu Hause. Gravierend wirkte schließlich besonders die Heimatlosigkeit zwischen den beiden deutschen Staaten: dem Osten, der seine Persönlichkeit und - als beinahe unerschöpfliches literarisches Arsenal - sein Werk geprägt hatte, und dem Westen, wo Hilbig publizieren und eine Existenz als freier Schriftsteller aufbauen konnte. Hinzu kommen die Spannungen einer Existenz, die zwischen produktiven Phasen konzentrierter literarischer Arbeit und Abstürzen in den Alkoholismus schwankte.

Es scheint daher überaus angemessen, dass auch die Monografie von Karen Lohse in einem Zwischenbereich angesiedelt ist. Die Studie ist - mit originellen Einsichten etwa zur Poetologie Wolfgang Hilbigs - literaturwissenschaftlich ausgerichtet, sie verfügt streckenweise aber selbst über literarische Qualität. Auch was das Genre betrifft, handelt es sich um eine - allerdings problematische - Zwischenform, wie bereits aus der Bezeichnung "motivische Biographie" hervorgeht. So reizvoll das Übereinanderblenden von Leben und Werk im Falle Hilbigs ist, so entgeht die Untersuchung doch nicht der Gefahr des Biografismus; deutlich wird die methodische Unreflektiertheit, wenn etwa von einem "fiktive[n] Beschreiben der Realität" die Rede ist. Dass die Zielrichtung nicht ganz klar ist, geht auch daraus hervor, dass ein Kapitel wie "Trümmer, Asche und Kadaver" sich - durchaus überzeugend - vor allem auf das literarische Werk bezieht, während andere Kapitel sowie der dokumentarische Anhang mit Interviews und besonders der Bildteil des auch äußerlich schön gestalteten Buchs konventionell biografisch ausgerichtet sind. Dem Anspruch der Studie hätte es eher entsprochen, die Zwischenwelten Wolfgang Hilbigs etwa durch - photografisch ja überaus reizvolle - Bilder industrieller Brachflächen zu illustrieren, statt Aufnahmen aus dem Familienalbum zu präsentieren. Insgesamt wäre es vielleicht besser gewesen, den biografischen Hintergrund nur einführend zu skizzieren, um dann das Werk und den zeitgeschichtlich-lebensweltlichen Kontext, aus dem es sich speist, in größerer Distanz gegenüber der äußeren Biografie Wolfgang Hilbigs zu analysieren. Neben diesem grundsätzlichen Problem stört in formaler Hinsicht, dass Quellennachweise nur unvollständig geliefert werden und einige sprachliche Mängel (etwa "der proletarische Arbeitsethos") nicht behoben wurden. Doch schließlich wird - ein Jahr nach dem Tod Wolfgang Hilbigs - auch nicht der Anspruch erhoben, dass es sich bei dieser Studie um 'die' Monografie zu diesem Autor handele; in sympathischer Vorläufigkeit wird hier vielmehr Hilbigs Zwischenwelten auf eine subtile Weise nachgespürt, die für weitere Untersuchungen wegweisend ist.


Titelbild

Karen Lohse: Wolfgang Hilbig. Eine motivische Biografie.
Plöttner Verlag, Leipzig 2008.
144 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783938442449

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