Selbstbeschauung aus der Schlüssellochperspektive

Isabel Allendes autobiografischer Band "Das Siegel der Tage"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Mir stehen die Zeiten der Trauer und die Verluste der Vergangenheit ins Gesicht geschrieben. Wir haben einander: es ist ein Fest. Das Siegel der Tage, Leid und Freuden geteilt zu haben, war längst unser Schicksal." So pathetisch charakterisiert die mittlerweile 66-jährige Erfolgsautorin Isabel Allende in ihrem autobiografischen Band "Das Siegel der Tage" den eigenen Gemütszustand und ihr Verhältnis zu Ehemann Willie, mit dem sie seit vielen Jahren nördlich von San Francisco lebt.

Mit diesem ausschweifenden Epos über ihr Privatleben wollte Isabel Allende an ihren 1995 erschienenen Roman "Paula" anknüpfen, in dessen Mittelpunkt der Tod ihrer Tochter durch die seltene Stoffwechselkrankheit Poryphyrie stand. Vor dreizehn Jahren konnte man die emotionale Nähe und die tiefe seelische Betroffenheit der Autorin durch die Zeilen spüren. Jetzt allerdings begegnen wir einem auf dramatische Zuspitzungen getrimmten Familienpanorama, das an TV-Endlosserien à la "Lindenstraße" erinnert.

Die vielen auftretenden Familienangehörige sind äußerst blass gezeichnet, nicht der psychologische Tiefgang, sondern die äußeren Einflüsse, die harten Zäsuren in den Biografien, stehen bei Isabel Allende im Mittelpunkt. Dass sie diese Erinnerungen an ihre verstorbene Tochter Paula richtet, kann als ästhetischer Kunstgriff nicht überzeugen und rückt den Band zudem in eine nebulöse Spiritualität. Kein Wunder, dass auch buddhistische Geistliche auftreten, bei denen eines der angeheirateten Enkelkinder der Autorin landet.

Wir erfahren zudem von den zwischenzeitlichen Eheproblemen mit dem Rechtsanwalt Willie, von einer Schwiegertochter, die ihr drei Enkel schenkte, ehe sie in eine lesbische Beziehung flüchtete, und nehmen teil am Schicksal der drogensüchtigen Tochter ihres Mannes aus einer früheren Beziehung. Nicht die Authentizität ist zu hinterfragen, sondern die auf platten Voyeurismus ausgelegte literarische Umsetzung.

Die von Allende praktizierte, bisweilen arg narzisstische Selbstbeschauung aus der Schlüssellochperspektive liest sich wie eine künstlerische Bankrotterklärung einer Autorin, die ihren literarischen Anspruch auf dem Altar des Massenpublikumsgeschmacks geopfert hat. Und wenn Isabel Allende aufrichtig von ihren handfesten Problemen mit dem Älterwerden schreibt, darf sie sich der Zustimmung von in die Jahre gekommenen Großmüttern sicher sein.

Weltweit sind inzwischen rund 40 Millionen Exemplare von Isabel Allendes Büchern verkauft worden (davon allein sieben Millionen im deutschsprachigen Raum), doch mit jedem neuen Werk wächst die Gewissheit, dass sie an die Qualität ihres 1982 erschienenen und von Bille August kongenial verfilmten Debütromans "Das Geisterhaus" nicht mehr herankommen wird.


Titelbild

Isabel Allende: Das Siegel der Tage.
Übersetzt aus dem Spanischen von Svenja Becker.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
410 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783518420102

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