Verführerische Kälte

Über Anja Jardines Erzähldebüt "Als der Mond vom Himmel fiel"

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über die Anfänge der Liebe heißt es in Anja Jardines Erzähldebüt, diese hätten sich verändert: "Vor allem, und das war seltsam, bargen sie keine Zukunft mehr, kaum je." Auf die Begegnungen und Beziehungen, die von der Wahl-Schweizerin in elf eindringlichen Texten erzählt werden, trifft diese ernüchternde Beobachtung uneingeschränkt zu.

Da ist zum Beispiel die junge Frau, die auf dem morgendlichen Weg zur Arbeit im überfüllten U-Bahn-Abteil mit einem Fremden ein erregendes "Blick-Billard" spielt. "Er hielt das Buch geschlossen in beiden Händen, das Gesicht in meine Richtung. Leute gingen an ihm vorbei, verdeckten ihn und gaben ihn wieder frei, und ein bisschen war es, wie wenn man auf einer Parkbank in der Sonne sitzt, vor der mit großer Eile die Wolken vorbeiziehen. Wann immer es zwischen uns frei war, spürte ich eine Wärme in mir aufsteigen, die mir vermutlich die Wangen rötete. Solche Momente kommen dem Glück sehr nah. Heute denke ich fast, das ist es."

Die beiden begegnen sich insgesamt allenfalls vier oder fünf Mal - macht bei jeweils elf Minuten gemeinsamer Fahrt gerade einmal eine knappe Stunde wortlosen Glücks, wie die Icherzählerin später ausrechnet. Noch weniger Zeit bleibt jener Putzfrau, die in einem der von ihr zu reinigenden Hotelzimmer einen Toten findet. Ehe sie ihrer Pflicht nachkommt und die Hotelleitung verständigt, genehmigt sie sich fünf kostbare Minuten Stille, die sie allein mit dem toten Gast verbringt. Eine Zeitspanne, die zumindest der Autorin reicht, dem Leser das Leben jener Frau nahezubringen.

Es sind Texte unterschiedlicher Länge, die Anja Jardine nun unter dem Titel "Als der Mond vom Himmel fiel" vorgelegt hat, Kurzgeschichten ebenso wie ausgewachsene Erzählungen, geschrieben in einer soliden, aber auch feinfühligen Sprache. Viele spielen in Großstädten, andere an eher ungewöhnlichen Schauplätzen wie auf einer Apfelplantage in Neuseeland oder in der norwegischen Einöde. Die meisten ihrer Protagonisten sind Single-Frauen zwischen 30 und 40, viele schreiben für Zeitungen. Das ist kein Zufall. Ist die Autorin, 1967 im norddeutschen Pinneberg geboren, doch selbst für die Medien tätig. Nach Stationen bei der "ZEIT", "Brigitte" und dem "Spiegel" schreibt Anja Jardine derzeit für "NZZ Folio", der Monatszeitschrift der "Neuen Zürcher Zeitung".

Wer Jardines Namen googelt, stößt schnell auf Parallelen zwischen ihren journalistischen und ihren literarischen Texten: Mit den alleinstehenden Müttern in der Titelgeschichte, die sich alle vom Sperma desselben Mannes, dem "Glücksspender 6461", künstlich befruchten ließen, hat sich Jardine selbst in New York unterhalten. Und in der Erzählung "Badnjars Augen", bereits 1999 mit dem Bettina-von-Arnim-Preis ausgezeichnet, begleitet eine Reporterin einen Bosnienflüchtling zurück in seine Heimatstadt Sarajevo - so wie es auch Jardine 1996 im Rahmen einer Fernsehreportage tat.

In der Fiktion verlieren die Reporterinnen rasch die professionelle Distanz, Situationen geraten außer Kontrolle, die Frauen werden von ihren Gesprächspartnern manchmal sogar noch lange in Albträumen verfolgt. Alle suchen sie das richtige Maß zwischen Nähe und Distanz, die jüngeren, die sich noch für "unabstürzbar" halten, ebenso wie die, die längst desillusioniert sind. In der Titelstory erhält Katrin, auch sie ist Journalistin, den Auftrag, die Biografie eines Theaterregisseurs zu schreiben; all ihrer Lebenserfahrung, all ihrem Instinkt zum Trotz wird sie seine Geliebte. "Katrin lag wach. Das eigene Bett plötzlich ein unwirtlicher Ort, sein Rücken die Eigernordwand. Mit bangem Herzen wartete sie auf Tageslicht. Sie dachte, dass neben jedem Menschen jemand anders ist. Was sie grad wurde, wollte sie nicht sein."

Eindrucksvolle Vergleiche und Symbole schafft Anja Jardine auch in anderen Texten, von der einsamen Weltraumsonde in "Pioneer 10", die allmählich den Kontakt zur Erde verliert, bis zu dem rauchenden Erdloch in "Golden Delicious", in dem langsam die Wurzeln eines gefälltes Eukalyptusbaumes ausbrennen. Nur manchmal schießt die Autorin in einzelnen Sätzen sprachlich übers Ziel hinaus: Dann "verfinstert" sich plötzlich "ein Gemüt" oder ein die Ernte vernichtender Hagelsturm gerät allzu plakativ.

Zu den wiederkehrenden Motiven gehört die Todessehnsucht von Jardines Heldinnen. Großartig ist etwa die Szene, als eine junge Frau, die gerade von ihrem Freund einen Abschiedsbrief erhalten hat, selbst in den See läuft, um eine betrunkene Selbstmörderin zur Umkehr zu bewegen. Endlose Minuten lang bleiben die beiden Frauen im eisigen Wasser stehen und spüren die verführerische Kälte an sich hochsteigen.

Ein hochriskantes Bravourstück ist der Autorin mit der Schlussgeschichte geglückt. In "Kommst du mit?" trifft eine Schülerin in Norwegen, müde vom ganzen "Menschen-Scheiß", einen jungen Mann, den sie übers Internet kennen gelernt hat, um mit ihm gemeinsam Suizid zu begehen, offenbar nach dem Vorbild von Igor Bauersimas Erfolgsstück "norway.today". "Zuhause war da immer das Licht ihres Computers, wenn sie erwachte [...] Sie konnte zu jeder Zeit mit jemandem sprechen, voller Vertrauen. Genauso wie sie vor elf Tagen Torbens Anfrage im Forum gelesen und ihm sofort geantwortet hatte, um drei Uhr morgens. 'Ich gehe', hatte er geschrieben, 'kommst du mit?' Und nun saß er keine zwei Meter von ihr entfernt und war unerreichbar."

Anders als ihre Figuren findet Anja Jardine stets das richtige Maß zwischen Einfühlung und distanzierter Beobachtung. Voller Mitgefühl und zugleich unerbittlich folgt sie den beiden Jugendlichen auf ihrem Weg mit zwei Hundeschlitten durch die einsame Schneelandschaft Norwegens. Und enttäuscht souverän die Hoffnung des Lesers auf ein tröstliches Ende.


Titelbild

Anja Jardine: Als der Mond vom Himmel fiel. Erzählungen.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2008.
303 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783036955186

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