Keine reine Hommage
Günter Grass als "Bürger und Schriftsteller" im Spiegel der internationalen Germanistik
Von Alexandra Pontzen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseUm mit dem Ende zu beginnen: Der vorliegende Sammelband, der etwas verspätet anlässlich von Günter Grass' achtzigstem Geburtstag erschienen ist, schließt mit einem Huldigungsgedicht des chinesischen Lyrikers Zhang Ziyang. Er gratuliert dem deutschen Autor mit chinesischen Schriftzeichen, um so dessen Weltgeltung buchstäblich vor Augen zu führen.
Auch sonst ist der von den Breslauer Germanisten Norbert Honsza und Irena Swiatlowska herausgegebene Band ein Beleg für Grass' internationale Präsenz, obschon es eines solchen Belegs kaum bedurft hätte. Die achtunddreißig Beiträger kommen aus mehreren Nationen, die Mehrzahl aus Polen und Deutschland, und nicht wenige widmen sich der Rezeption des Grass'schen Werks im Ausland. Wobei auch hier wieder Polen den größten Raum einnimmt, was vollauf gerechtfertigt ist, weicht doch die polnische Rezeption wegen ihrer politischen Implikationen von dem sonst üblichen Rezeptionsschema ab.
Anekdotisches fehlt ebensowenig: Jan Papiór berichtet, wie im Mai des Jahres 1988 auf einem polnischen Kongress über Grass, bei dem der Autor selbst und andere deutsche Gäste zugegen waren, die letzteren über die Milchsuppe gemurrt hätten, die es als Frühstück gab. Das habe Grass mit Unwillen zur Kenntnis genommen, sei aufgestanden, um die Mäkelnden in der Art eines Redners, der einen Toast ausbringt, erfolgreich zur Ordnung zu rufen: "Na ja..., die Milchsuppe..., die schmeckt genauso, wie sie meine Großmutter und meine Mutter zum Frühstück gemacht haben...". Ein instruktives Beispiel dafür, wie Grass kleinbürgerliche Erfahrungen provokativ ausspielt und seine Autorität geltend zu machen weiß.
Obwohl das frühe Œuvre, vor allem die Danziger Trilogie, nicht aus dem Blick gerät, liegt der Schwerpunkt des Bands auf dem Spätwerk. So enthält er drei Aufsätze allein zu der Novelle "Im Krebsgang", von denen die detailfreudige Untersuchung der russischen Germanistin Viktoria Fedorovskaja am bemerkenswertesten ist. Sie vergleicht deutschsprachige und russische Rezensionen und kommt zu dem Resultat, dass die Aufnahme in Russland wohlwollender war als im deutschsprachigen Raum. Die in Deutschland gelegentlich geäußerte Besorgnis, "Im Krebsgang" betreibe eine "Viktimisierung der Täter" wurde in Russland nicht geteilt, und man nahm dort mit Genugtuung zur Kenntnis, dass Grass mitteilt, nicht nur Flüchtlinge seien an Bord der "Wilhelm Gustloff" gewesen, sondern auch mehr als tausend Wehrmachtsangehörige. Verständlicherweise fand die Figur von Alexander Marinesko, dem Kommandanten des U-Boots, das die "Wilhelm Gustloff" versenkt hat, in den russischen Rezensionen stärkere Beachtung als in den deutschsprachigen. Sie gab Gelegenheit, an Russlands "U-Boot-Mann Nr. 1" zu erinnern, dessen Person wegen ihrer Nonkonformität über Jahrzehnte umstritten gewesen war. Fedorovskas eigene Meinung geht dahin, dass Marinesko in der Novelle eine zweitrangige Rolle spiele und "zwar schematisch", aber "sehr wahrheitsgetreu und gelungen dargestellt" werde.
Zum Spätwerk gehört auch der Lyrikband "Letzte Tänze". Ihm sind ebenfalls drei Beiträge gewidmet. Marcel Reich-Ranickis ungewöhnlich freundliche Besprechung aus der "FAZ" vom 30. 8. 2003 wird abgedruckt und bezeugt die Hochschätzung, die der sonst so strenge Kritiker dem Lyriker Grass entgegenbringt. Agnieszka Kodzis-Sofinska schreibt über das "Motiv des Tanzes im Werk von Günter Grass", wobei sie, entsprechend ihrem Obertitel "Zwischen Sensualität und Todesahnung", auf "Letzte Tänze" ausführlich eingeht. Sie hat kein Bedenken, Grass' hinlänglich bekannte Tanzlust in die Untersuchung einzubeziehen: "das lyrische Ich" sei "in dem gesamten Lyrikband auf die Figur des Autors zurückzuführen".
Ähnlich wie Kodzis-Sofinska betitelt auch Andreas Blödorn seinen Aufsatz über "Letzte Tänze" mit "Eros & Thanatos im Dialog", geht aber methodisch andere Wege. Mit Genauigkeit behandelt er die "Text-Bild-Kommunikation" und vermittelt darüber hinaus lesenswerte Einsichten in Grass' Lyrik überhaupt.
Mag Grass seinen weltweiten Ruhm zwar dem epischen Werk verdanken, internationales Ansehen genießt er auch als Lyriker, wie Übersetzungen seiner Gedichte bezeugen: Ewa Jarosz-Sienkiewicz stellt einige polnische Übersetzungen vor und Valérie de Daran ihre französische Übersetzung von "Kleckerburg".
Unprätentiös und nicht ohne sympathischen Lokalpatriotismus ist der Beitrag von Wolfgang Mieder. Er berichtet von den Versuchen, die er zusammen mit seinen Studenten über Jahrzehnte hin unternommen hat, um eine befriedigende englisch-amerikanische Übersetzung von Grass' Gedicht "Vermont" (1967) herzustellen, dem bisher anderswo wenig Beachtung geschenkt worden sei. Dass die an entlegener Stelle publizierte frühe Übersetzung von Michael Hamburger (1967) erst im Jahr 1990 zu seiner Kenntnis gelangt ist, räumt Mieder freimütig ein. Doch lässt er sich durch das Renommee Hamburgers nicht einschüchtern, sondern vergleicht dessen Übersetzung mit den Ergebnissen der Vermonter Gemeinschaftsarbeit, nicht zu deren Ungunsten. Mieders Beitrag illustriert an konkreten Beispielen, dass die Erörterung von Übersetzungsschwierigkeiten zu einem besseren Verständnis des Originals führen kann, weil dieses genauesten und unter Berücksichtigung möglichst vieler, sonst oft nicht wahrgenommener Bedeutungsnuancen gelesen werden muss.
Seit Klaus Briegleb sein Antisemitismus-Verdikt über die Gruppe 47 ausgesprochen hat, ist auch Grass, der ein vertrauter Freund Hans-Werner Richters und so etwas wie Juniorchef der Gruppe war, in den Verdacht des Antisemitismus geraten, und es scheint nicht überflüssig, ihn gegen einen solchen Vorwurf in Schutz zu nehmen. Das tut Julian Preece überzeugend. Man könnte sich fragen, ob er nicht unnötigen geistigen Aufwand betreibt, trüge solche Verteidigung nicht dazu bei, einen genaueren Blick auf einige von Grass' jüdischen Gestalten zu werfen. So ist zum Beispiel nicht ohne Interesse, dass zu diesen auch Ferdinand Schmuh gehört, in der "Blechtrommel" Besitzer des Düsseldorfer "Zwiebelkellers", der in seiner Freizeit Sperlinge erschießt und die nicht erschossenen füttert. Das zwiespältige Verhältnis eines jüdischen Überlebenden zu seiner nichtjüdischen Umwelt, so Preece, lasse sich kaum eindrucksvoller charakterisieren, was allerdings eine nebulöse Deutung bleibt.
Schwerer ist Grass von dem Makel zu reinigen, dass er seine Zugehörigkeit zur Waffen-SS so lange verschwiegen hat. Romey Sabalias versucht es, vielleicht zu oberflächlich. Er klagt über die Unverhältnismäßigkeit der Kritik und fragt, wer eigentlich durch das lange Schweigen gelitten habe - außer Günter Grass selbst. Dagegen ist Burkhard Schaeder weniger gnädig. Er resümiert alle Momente, die gegen Grass sprechen und solche, welche die Entrüstung über die zu späte Enthüllung halbwegs verständlich erscheinen lassen - leider jedoch nicht ohne Animosität und Verfälschung. So hat sich Grass nicht an der "Verhöhnung" Paul Celans beteiligt, als dieser bei einer Tagung der Gruppe 47 vorlas. Abgesehen davon, dass "Verhöhnung" für das, was im Mai des Jahres 1952 anlässlich von Celans Lesung der Fall war, eine zu starke Vokabel ist, war Grass damals nicht Mitglied der Gruppe. Er stieß erst im Jahr 1955 dazu. Nichtsdestoweniger ist Schaeders Beitrag für den Sammelband ein Gewinn insofern, als er ein Gegengewicht zu den Beiträgen mit Hommage-Charakter darstellt und dem Eindruck vorbeugt, hier läge eine unkritische Festschrift vor. Das ist erfreulicherweise nicht der Fall.