Welt ohne Teufel?

Volker C. Dörrs und Michael Hofmanns Sammelband befragt das Humanitätsideal der Weimarer Klassik

Von Thomas BergerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Berger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lange Zeit diente in der Literaturwissenschaft die Rede vom "Humanitätsideal" der Weimarer Klassik vor allem zur kritischen Abgrenzung gegenüber einer Epoche, deren Repräsentanten sich aus einer unbefriedigenden (politischen) Realität ins Ideelle geflüchtet hätten. Diese "Klassiker-Schelte" gewann ihren polemischen Impetus als Gegenbewegung zu einer Germanistik, in der die Formulierung des Humanitätsideals ahistorisch als Gipfelleistung deutscher Literatur verstanden wurde. Heutzutage löst die Rede von "Humanität" gerade unter Intellektuellen meist reflexartig eine Abwehrreaktion aus: Zu augenfällig habe sich der Humanismus angesichts der monströsen Kriege des 20. Jahrhunderts als realitätsblind disqualifiziert. In jüngster Zeit kam die "Humanität" als Forschungsgegenstand der Literaturwissenschaft daher kaum noch in Betracht. So ist es zu begrüßen, wenn sich eine Aufsatzsammlung dem Thema aus heutiger Perspektive wieder zuwendet, zumal es sich hierbei immerhin um einen zentralen Zugang zu den Werken der Weimarer Klassik zu handeln scheint.

Doch ist es tatsächlich so, fragt der Sammelband, den Volker C. Dörr und Michael Hofmann herausgegeben haben. Der Humanitäts-Bezug der Klassik wird im Beitrag von Carsten Zelle, der sich mit Humanitätsbegriffen bei Immanuel Kant, Friedrich Schiller und Georg Forster befasst, grundsätzlich in Frage gestellt: "Ist das ,Humane' der Weimarer Klassik womöglich nur ein Rezeptionsphänomen?" Zelle stellt fest, dass der Terminus "Humanität" in Schillers theoretischen Schriften - ganz im Gegensatz zu deren Thematisierung in Helmut Koopmanns einschlägigem Schiller-Handbuch - nur selten fällt. Zelles eigene Ausführungen tragen dieser Problemlage Rechnung und orientieren sich eng an der konkreten Verwendung des Humanitätsbegriffs bei den jeweiligen Autoren. Als Ergebnis ist festzuhalten, "dass Humanität bei Kant, Schiller und Forster in unterschiedlicher Akzentuierung thematisiert wird".

In der Verständigung über Humanität beziehungsweise das Humanitätsideal kann offenbar ein begrifflicher Konsens nicht vorausgesetzt werden. Vielmehr richtet sich - wie im Vorwort des Bandes ausgeführt - ein Hauptkritikpunkt gegen die inhaltliche Vagheit des Humanitätsbegriffs, die ihn in der Rezeption schnell zur Leerformel und Phrase habe verkommen lassen. Von einer erneuten wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Humanitätsideal wäre also zu erwarten, dass der ursprüngliche gedankliche Gehalt gegenüber den Verschleifungen einer langen Rezeptionsgeschichte erneut herausgestellt würde - ein gedanklicher Gehalt, der freilich von Autor zu Autor auch erheblich variieren dürfte.

Mit dem Problem der begrifflichen Unbestimmtheit ist insbesondere eine Herausgeberschrift konfrontiert, denn erwartungsgemäß differieren auch die Humanitätsbegriffe der Wissenschaftler, sei es ausgehend vom Untersuchungsgegenstand oder aber als Vorbegriff der eigenen Analyse. Ein Sammelband zum Humanitätsgedanken sollte also "Arbeit am Begriff" leisten. Im Idealfall sollten die einzelnen Beiträge um einen begrifflichen Konsens bemüht und diesbezüglich miteinander vernetzt sein. Im Vorwort wird dementsprechend der Versuch unternommen, übergreifende Zusammenhänge herzustellen, doch es fällt auf, dass der Begriff der "Weimarer Klassik" sehr viel konkreter umrissen wird als der Humanitätsbegriff. Was also leisten hier die einzelnen Aufsätze?

Neben Carsten Zelle bemühen sich vor allem Jutta Heinz und Wulf Köpke kenntnisreich und textnah um das konkrete Verständnis des Humanitätsbegriffs bei einem ausgewählten Autor. In ihren Beiträgen grenzen sie ihren Untersuchungsgegenstand noch weiter ein: Heinz beschränkt sich auf Christoph Martin Wielands Essays, in denen der verwendete Humanitätsbegriff auf seine Wandlungen hin befragt wird, und Köpke interessiert sich für Johann Gottfried Herders Ansichten nach der Französischen Revolution, also vor allem für die Humanitätsbriefe. In diesen Beiträgen findet sich kein Humanitätsbegriff, der unabhängig vom Untersuchungsgegenstand als Folie der Argumentation diente.

Demgegenüber entfalten die meisten anderen Beiträge einen allgemeinen Vorbegriff von Humanität, an dem sie sich abarbeiten. Jürgen Kost sieht - ausgehend von Niklas Luhmanns Thesen - das Spezifische des Humanitätsideals in seiner ausgewogenen Vermittlung von Individualismus und gesellschaftlicher Orientierung. Für Kost ist mit Humboldts Formulierung - "Ein Individuum ist eine in der Wirklichkeit dargestellte Idee" - die radikale Individualisierung des Humanitätsideals vollzogen. Er wertet dies als Besonderheit von Humboldt, der ein scheinbar veraltetes, "adliges" Konzept aufgreife, das bei genauerer Betrachtung zum Individualismus der Moderne führe. Der Bezug auf den Individualismus taucht jedoch auch in anderen Aufsätzen auf, wobei unterschiedliche Schlussfolgerungen gezogen werden. Köpke referiert Herder: "Jeder Mensch trägt ein ,Ideal' von sich selbst in sich, das er verwirklichen will." Daraus wird jedoch keineswegs die These abgeleitet, hier handele es sich um einen radikalen Individualismus. Für Stefan Greif hingegen vermeidet Herder eine ",klassische' Festschreibung hoher Bildung und edler Menschenfreundlichkeit", denn "solch eine ,Wesensschau' des Humanen würde das individuelle Entfaltungspotential des Einzelnen konfektionieren." Charis Goer wiederum sieht Wilhelm Heinse den "entscheidenden Schritt weiter auf dem Weg in die Freiheit, aber auch in die Vereinzelung der Moderne" tun und zitiert ihn: "Jede Natur hat ihre eigne Vollkommenheit, und endlich ist gar alles individuell." Offenbar ist der Individualitäts-Gedanke zeittypisch, doch nur bei Köpke wird er nicht als Besonderheit des Autors, sondern als integraler Bestandteil des Humanitätsgedankens behandelt.

Am ausführlichsten entwickelt Michael Hofmann seinen Humanitätsbegriff: Er stellt "grundlegende Facetten der Begriffe ,Humanität' und ,Humanismus'" heraus, die sich auf Menschenrechte, Menschenwürde, menschenfreundliches Verhalten und die Versöhnung von Sinnlichkeit und Verstand beziehen und die sogleich in verschiedene Aporien führen wie etwa in die Aporie eines "Despotismus der Freiheit" oder aber in die Aporie des ausgeschlossenen Fremden. Mit diesen Aporien - so die These - hätten sich Johann Wolfgang Goethe und Schiller als Vertreter der Weimarer Klassik bereits vor der Jahrhundertwende auseinandergesetzt, sie jedoch erst in ihren späten Werken einer Lösung zuführen können. Goer hingegen setzt ihre Ausführungen zu Heinse in kritischen Bezug zu einem "allzu selbstgefälligen Humanismus", der "unweigerlich statt in heiter-versöhnlichen Schlusstableaus in wahrhaft inhumanen Schreckensszenarien" enden müsse. In Goers Begriff eines klassischen Humanismus, der sich hier im Schlusstableau von Goethes "Iphigenie" konkretisiert, ist also von den Aporien nichts zu spüren, an denen Hofmann sich abarbeitet. Beide Aufsätze sind hingegen auf unterschiedliche Weise von der Gedankenfigur der "Dialektik der Aufklärung" durchzogen; der Bezug zu Theodor W. Adorno ist in der Tat ein roter Faden, der einige Aufsätze miteinander verbindet.

Dies sei abschließend anhand der Thematisierung von Goethes "Iphigenie" verdeutlicht. Der Titel des Bandes bezieht sich ja auf das bekannte Goethe-Zitat zur Charakterisierung seines Schauspiels. Im Vorwort wird dieses vielinterpretierte Zitat als Bestätigung dafür gesehen, dass der "Weimarer Neuhumanismus" in der Formulierung des Humanitätsideals oder zumindest im Rückblick "bereits kritisch die Möglichkeiten und Grenzen des neuen Paradigmas" reflektiert habe. Volker C. Dörr sieht in seinem Beitrag Goethes "Iphigenie" als "dekonstruktivistischen Text": In Gegensatzpaaren wie "weiblich vs. männlich (und allgemeiner: Natur vs. Kultur), naiv vs. sentimentalisch, Zivilisation vs. Barbarei, Autonomie vs. Heteronomie und wahrhaftig vs. rhetorisch" bleibe "das Abgewertete in der Konstitution der Abwertung bestimmend." Das erinnert an Hofmanns Darstellung der Aporien der Humanität; metaphorisch gesprochen besteht für Dörr das Problem darin, dass sich der Teufel aus der Welt nicht vertreiben lasse, ohne im Zuge dieser Vertreibung wieder auf den Plan gerufen zu werden. Für Dörr muss eine "höchste Humanität" als "verteufelte Humanität" das Element des "Teufels" integrieren, denn im Verzicht auf den "Teufel in jeder Form" vermutet Dörr "gerade die Schwäche des Humanitätskonzepts".

Aus Adornos Feder stammt ein einflussreicher Aufsatz über Goethes "Iphigenie", auf den im vorliegenden Band immer wieder Bezug genommen wird. Für Adorno bleibt Thoas am Schluss des Schauspiels als der Düpierte zurück, dessen humanes Handeln mit der Aufgabe seiner persönlichen Interessen verbunden ist. Auch für Dörr bleibt "die endgültige ,Lösung' des dramatischen Konflikts [...] merkwürdig partiell, weil sie Thoas ausschließt". Und Hofmann ist ebenfalls im Anschluss an Adorno der Meinung, der Ausschluss der Barbaren mache "die vermeintliche Humanität selbst barbarisch". Zwei Fragen drängen sich hier dem Leser auf: Wird Humanität nun nicht doch von einer Norm aus kritisiert, die nur die vollkommene und für alle Beteiligten zufriedenstellende Lösung als wirklich erstrebenswerte Lösung ansehen kann, die also den Teufel aus der Welt vertreiben will? Und: Ist die Integration des Fremden tatsächlich ein Bereich, den der klassische Humanismus vernachlässigt hat? Greif sieht im Gegensatz zu dieser These in Herder sogar schon den Verfechter eines "transkulturellen" Humanismus.

Gegenüber der Dominanz von Adornos "Dialektik der Aufklärung" hätte man sich in dem Sammelband einen stärkeren Bezug auf Panajotis Kondylis' These der "Rehabilitation der Sinnlichkeit" gewünscht. Speziell zu Goethes "Iphigenie" wäre auch eine ausführlichere Diskussion von Wolfdietrich Raschs Lesart gewinnbringend gewesen. Dessen Verständnis von Goethes Stück als "Drama der Autonomie" war 1979 bahnbrechend und rückte das Schauspiel konsequent in den Kontext der Aufklärung. Von dieser Warte aus wäre dann auch das Verhältnis von Aufklärung und Weimarer Klassik in Bezug auf das Humanitätsideal facettenreicher in den Blick zu nehmen als auf der einseitigen Basis einer "Dialektik der Aufklärung".

Während der Bezug auf die "Iphigenie" in einer Diskussion über das Humanitätsideal der Klassik kaum fehlen darf, finden sich in den lesenswerten Beiträgen von Norbert Otto Eke, der Heiner Müllers Schillerlektüre und insbesondere dessen Strichfassung des "Wallenstein" untersucht, und von Helmut J. Schneider zum Topos der schönen Frau eher außergewöhnliche Zugänge. Insgesamt bietet der Band - auch mit den genannten Einschränkungen - eine Fülle verschiedenartiger und spannender Perspektiven auf ein Thema, das auch außerhalb der Literaturwissenschaft wieder an Aktualität gewonnen hat. So fragt etwa das Humanismus-Projekt des Essener Kulturzentrums nach Möglichkeiten und Grenzen eines Humanismus und stellt insbesondere auch die Frage, ob und wie dieser Humanismus in einer globalisierten Welt zukunftsfähig sein könnte. Es liegt auf der Hand, dass der Umgang mit Fremdem sowie die Fähigkeit zur Perspektivübernahme hier zentrale Problemstellungen sind. Der Sammelband weist somit - in für die Frage nach dem Humanitätsideal sicherlich angemessener Weise - über ein rein (literar)historisches Interesse und über den Fokus der Fachwissenschaften hinaus.


Titelbild

Volker C. Dörr / Michael Hofmann (Hg.): "Verteufelt human"? Zum Humanitätsideal der Weimarer Klassik.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2008.
200 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783503098415
ISSN: 05540674

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