Novemberpogrom 1938

Eine neue Quellensammlung dokumentiert den Terror des NS-Regimes aus der Perspektive der jüdischen Opfer

Von Armin NolzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Armin Nolzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seiner bahnbrechenden zweibändigen Darstellung zur NS-Judenverfolgung und zum Holocaust hat Saul Friedländer, der Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2007, eine auf den ersten Blick selbstverständliche Forderung aufgestellt. Jede historiografische Schilderung der antijüdischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik des NS-Regimes solle die Praktiken der Täter, die Einstellungen der deutschen Bevölkerung und die Lebenswelt der Opfer in einem einzigen Analyserahmen behandeln. Bei dieser "integrierten Geschichte" müssten mithin die Täter, die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen im Reichsgebiet, den besetzten Ländern und den NS-Satellitenstaaten und die Reaktionen der betroffenen Juden gleichgewichtig analysiert werden. Friedländer forderte nicht mehr und nicht weniger, als die Mikro-, Meso- und Makroebene miteinander zu verbinden und Ursachen, Verlauf sowie Folgen des Holocausts als Gesellschaftsgeschichte zu konzipieren. Er ist bisher der einzige Historiker geblieben, dem dies auch gelang.

Eine solche integrierte Geschichte des NS-Massenmordes an sechs Millionen europäischen Juden bedarf, dies sollte für Historiker eine Binsenweisheit sein, einer repräsentativen Auswahl der zugrunde liegenden Quellen. Die meisten Studien über die antijüdische Gewalt des NS-Regimes, die seit den frühen 1970er-Jahren publiziert wurden, reproduzieren jedoch vornehmlich die Perspektive der Täter. Dies ist beileibe kein Zufall, hat sich die Geschichtsschreibung doch lange Zeit ausschließlich auf deren Hinterlassenschaften beschränkt, seien es die Akten der NS-Verfolgungsbehörden, die vielen Stimmungs- und Lageberichte der NS-Institutionen oder Protokolle zeitgenössischer Gerichtsverfahren gegen Pogromtäter. Nunmehr liegt ein bedeutendes Quellenkonvolut vor, in dem ausschließlich Opfer der antijüdischen NS-Politik zu Wort kommen. Im Mittelpunkt stehen die Ereignisse vom 9. und 10. November 1938, als im Deutschen Reich, in Österreich und im Sudetenland eine bis dato beispiellose Terroraktion gegen die dort lebenden Juden vom Zaun gebrochen wurde. Die Folgen dieses Novemberpogroms sind bekannt: Nachweislich 91 Juden wurden ermordet, die allermeisten Synagogen in Brand gesetzt, mehr als 7.000 jüdische Geschäfte zerstört und unzählige Privathäuser und Wohnungen samt Mobiliar zertrümmert. Häscher der Geheimen Staatspolizei verschleppten 30.000 jüdische Männer in die Konzentrationslager Dachau, Sachsenhausen und Buchenwald, wo sie teils monatelang unter menschenunwürdigsten Bedingungen inhaftiert blieben. In den Tagen nach dem 9. und 10. November 1938 begingen mehrere hundert Juden Selbstmord, weil sie die Drangsalierungen und Demütigungen nicht mehr länger ertrugen.

Die vorliegende Edition umfasst insgesamt 356 Berichte, die das Ausmaß der Zerstörung schonungslos dokumentieren. Sie wurden in den Wochen nach dem Novemberpogrom von unmittelbar betroffenen - zumeist männlichen - Juden niedergeschrieben und an das von Alfred Wiener und David Cohen geleitete Jewish Central Information Office (JCIO) in Amsterdam übersandt. Dort wurden die Berichte, die in der Regel handschriftlich vorlagen, mit der Schreibmaschine transkribiert und in rotes Leder gebunden. Im Sommer 1939 brachte Wiener den daraus entstandenen Band, der 636 Blatt umfasste, nach London in Sicherheit. Seitdem wird er in der nach ihm benannten Wiener Library aufbewahrt, die eine der weltweit wichtigsten Quellensammlungen zur antijüdischen Politik des NS-Regimes beherbergt. Die Herausgeber haben sich glücklicherweise dafür entschieden, den vollständigen Band dieser Berichte nach Regionen geordnet zu edieren. Sie haben den Dokumenten einen Abriss zur Geschichte des JCIO, eine konzise Einleitung zum Stellenwert des Antisemitismus für die NS-Verfolgungspolitik und ausführliche editorische Vorbemerkungen vorangestellt. Eine vorzügliche Kommentierung, die aus teils detaillierten Personen- und Sachkommentaren und vielen weiterführenden Quellen- und Literaturhinweisen besteht, erleichtert die wissenschaftliche Benutzung. Ein Wermutstropfen besteht im Verzicht des Verlages auf ein Register. Ein solches steht jedoch allen Interessierten unter www.juedischesmuseum.de zum Download zur Verfügung.

Der Inhalt der einzelnen Berichte ist erschütternd: Auf den mehr als 850 Seiten der Edition berichten deutsche und österreichische Juden über unzählige Morde, Selbstmorde, körperliche Misshandlungen, das Niederbrennen von Synagogen, Plünderungen und Sachbeschädigungen. Auch weniger bekannte Facetten des Novemberpogroms finden ausführliche Erwähnung, etwa die beispiellos rohe Gewalt gegen Rabbiner, die Misshandlung von Frauen und Kindern oder die Verzweiflung jüdischer Waisen, die nach der Ermordung oder Inhaftierung ihrer Eltern und Verwandten auf sich allein gestellt waren. Vereinzelt lassen sich den Berichten Aussagen darüber entnehmen, wie sich die Mehrheitsbevölkerung während des Novemberpogroms verhielt und inwiefern die Pogromtäter antisemitisch motiviert waren. Jedoch stehen diese beiden Fragen, welche die Forschung lange Zeit beschäftigt haben, nicht im Mittelpunkt. Vielmehr geht es in den Augenzeugenberichten ausschließlich um die Leiden der jüdischen Opfer, und angesichts ihrer Ausführungen wirken andere Herangehensweisen an das Thema im Nachhinein wenig adäquat.

So stellt die vorliegende Edition ein eindrückliches Zeugnis jenes "Schicksalsjahres" 1938 dar, als das NS-Regime die Verfolgung der Juden noch einmal radikalisierte. Ihr Wert liegt insbesondere in der zeitlichen Nähe der Berichte zu den Ereignissen selbst. Der Novemberpogrom 1938 wird dadurch in einer Anschaulichkeit erfahrbar, die ihresgleichen sucht. Das allergrößte Verdienst dieser mustergültigen Edition liegt jedoch darin, den jüdischen Opfern ihre Stimmen zurückzuerstatten. Damit diese Stimmen Gehör finden, sollte sie zur Pflichtlektüre in den weiterführenden Schulen, der Erwachsenenbildung und den Universitäten werden. Um Saul Friedländers eingangs erwähnte Forderung nach einer "integrierten Geschichte" der NS-Judenverfolgung zu erfüllen, bedarf es weiterer vergleichbarer Quellensammlungen. Mit dieser Edition zum Novemberpogrom 1938 liegt die qualitative Messlatte jedenfalls sehr hoch.


Titelbild

Ben Barkow / Raphael Gross / Michael Lenarz (Hg.): Novemberpogrom 1938. Die Augenzeugenberichte der Wiener Library, London.
Jüdischer Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
933 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783633542338

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