"Immer fort aus einem Extreme in das andere"
Rainer M. Holm-Hadulla schreibt eine Psychobiografie über Johann Wolfgang Goethe
Von Sandra Kluwe
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseFuror poeticus, Dichter-Manie, Inspiration, Kuss der Musen - all diese mehr oder weniger mythologischen Umschreibungen des poetisch kreativen Zustands fußen auf der Erfahrung einer über die Grenzen des Menschlich-Normalen hinausstürmenden geistigen Ekstase. In den Zeiten der Postmoderne hat dieser höhere Zustand sogar im Büro Einzug gehalten: Management und Personalbeauftragte setzen alles daran, den 'work flow' ihrer Angestellten durch ein geeignetes 'setting' und 'timing' zu unterstützen. Allerdings lässt sich Kreativität nur bedingt durch bestimmte Techniken konditionieren: Nicht aus jeder 'mindmap' entsteht ein Feuerwerk der Geistesblitze, nicht jedes 'brainstorming' setzt automatisch einen Orkan der Ideen frei, und ob und wann die inneren und äußeren Bedingungen hierfür erfüllt sind, bleibt bis zu einem gewissen Grad der günstigen Stunde, dem 'Kairos' überlassen.
Die amerikanischen Psychologen Edward L. Mooney und Mel Rhodes unterschieden vier "P"s der menschlichen Kreativität: das kreative Produkt, den kreativen Prozess, die kreative Persönlichkeit und die Umweltbedingungen ("press"). Diese vier Faktoren müssen auf günstige Weise zusammenwirken, damit ein als begabt oder hochbegabt geborener Mensch tatsächliche Kreativität entfalten und neuartige Geistesprodukte hervorbringen kann.
In seiner Psychobiografie "Leidenschaft. Goethes Weg zur Kreativität" zeigt der Heidelberger Psychiater und Berater Rainer M. Holm-Hadulla, was alles zusammen kommen musste, damit aus einem sprachlich, politisch und naturwissenschaftlich Hochbegabten jener Johann Wolfgang Goethe werden konnte, den man als Verkörperung vielseitigster Kreativität bewundern kann.
Da wären zunächst einmal die Frauen an Goethes Seite: von der Mutter und Schwester über Käthchen Schönkopf, Friederike Brion, Charlotte Buff, Lili Schönemann bis hin zu Charlotte von Stein, der römischen Faustina, Christiane Vulpius, Marianne Willemer und Ulrike von Levetzow.
Holm-Hadulla charakterisiert Goethes erotische Leidenschaften mit der Objektbeziehungstheorie: In offenbar überdurchschnittlicher Weise benötigte Goethe "ein Gegenüber, um seine Wünsche und Sehnsüchte, ja seine Persönlichkeit als kohärent zu erleben". Im Spiegel der männlich-weiblichen Begegnung aktualisierte der Autor "Beziehungskonflikte, Phantasien und Stimmungen", in denen sich vielfältige Erfahrungen verdichteten. Auf der anderen Seite diente Goethe die Einsamkeit als Kreativitätsquell. So schrieb er an Friedrich Schiller: "ich habe die Erfahrung wieder erneuert: daß ich nur in einer absoluten Einsamkeit arbeiten kann, und daß nicht etwa nur das Gespräch, sondern sogar schon die häusliche Gegenwart geliebter und geschätzter Personen meine poetischen Quellen ableitet."
Insbesondere Nachrichten über Krankheiten empfand er bekanntermaßen als lästige Beunruhigungen - dies noch zur Zeit seiner wilden, später legalen Ehe mit Christiane Vulpius, als Goethe seinen jahrzehntelang virulenten Nähe-Distanz- oder Autonomie-Abhängigkeits-Konflikt eigentlich weitgehend gelöst hatte. An die Stelle realer Objekt-Beziehungen traten so immer auch literarische Arbeiten, die Holm-Hadulla als 'Übergangsobjekte' im Sinne Donald Winnicotts deutet.
Den historisch fatalen Folgen des 'Entartungs'-Diskurses zum Trotz, werden auch in der Gegenwartsforschung nicht selten psychopathologische Erklärungsmodelle herangezogen, um das Geheimnis künstlerischer oder wissenschaftlicher Kreativität zu erhellen. Namentlich die bipolare, zwischen Phasen der Manie und der Depressivität oszillierende Persönlichkeit, wird bisweilen als prototypisch kreativ angesehen. Der Psychiater Wilhelm Lange-Eichbaum, Schöpfer des in der Genieforschung umstrittenen Begriffs der "Bionegativität", attestierte Goethe 1928 denn auch eine manisch-depressive Erkrankung. Ernst Kretschmer vermutete 1929 eine zyklische Pathografie, also eine leichtere anlagebedingte bipolare Störung. Holm-Hadulla konzediert, dass Goethe, den seine "Natur" "immer fort aus einem Extreme in das andere warf", unter heftigen Stimmungsschwankungen litt. Zu ausgeprägt manischen Phasen sei es allerdings niemals gekommen, allenfalls zu hypomanen. Zwar könne man Goethes häufig wiederkehrenden depressiven Verstimmungen klinisches Niveau zusprechen, doch diagnostiziert Holm-Hadulla eine vorwiegend exogene, auf enttäuschende Ereignisse zurückgehende Depressivität, keine endogen-biologische. "Zu einer ausgeprägten depressiven Phase mit Wochen bis Monate andauernder Antriebsstörung" sei es nie gekommen; man könne daher höchstens von "leichten depressiven Episoden" sprechen. Vertieft setzt sich Holm-Hadulla mit Kurt R. Eisslers psychoanalytischer Goethe-Biografie auseinander. Eisslers Diagnose einer psychotischen Störung schizophrenen Typs lehnt Holm-Hadulla ab; ebenso relativiert er Eisslers Inzest- und Homosexualitäts-Thesen. Dass Goethes erster Sex auf den Italien-Aufenthalt zu datieren sei, wird in diesem Kontext ebenfalls bezweifelt.
Während Holm-Hadulla also einem allzu leichtfertigen Pathologieverdacht entgegenwirkt, spricht er Goethe mit Carl Gustav Carus "gesunde Krankheiten" zu - dies wiederum mit einer durchaus psychoanalytischen Akzentsetzung. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang Holm-Hadullas Interpretation des Kindsmords-Motiv. Mit Melanie Klein und Marie Langer macht Holm-Hadulla zunächst geltend, dass auch in normalen Eltern-Kind-Beziehungen unbewusste Vernichtungswünsche - bis hin zum Kannibalismus - eine Rolle spielen können. Goethes lebenslange Auseinandersetzung mit dem Kindsmord wird vor diesem Hintergrund einerseits als 'Erinnerung, Wiederholung und Durcharbeitung' (Sigmund Freud) seines Traumas einer lebensbedrohlichen Geburt deutbar; Holm-Hadulla versteht Goethes unermüdliche kreative Tätigkeit darüber hinaus als Wiedergutmachung für archaische Destruktivität, die sich teils auf die Mutter, teils auf die früh verstorbenen Geschwister bezogen haben könnte.
Neben diesen und anderen Erkenntnissen psychoanalytisch-psychiatrischer Art bietet Holm-Hadullas Biografie einen gut lesbaren Überblick für Laien und Fachleute und liefert zugleich eine Werkbiografie, die in textanalytischer Hinsicht zwar wenig Neues zutage fördert, dafür aber manche produktionsästhetische Einsicht bereithält. So wird der narzisstische Selbstmord Werthers im Lichte der modernen Suizidforschung betrachtet, und Goethes "Vermächtnis" wird in einem abschließenden Kapitel als Quintessenz einer salutogenetischen, also gesundheitsförderlichen "Lebenskunst" gedeutet. Insgesamt eine kenntnisreiche und flüssig geschriebene Studie.
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