Klages Gesang
Rainald Goetz' veröffentlicht sein "Vanity Fair"-Internet-Tagebuch
Von Walter Delabar
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIn jenen grauen, weit entfernten Jahren, mit denen das letzte Jahrtausend zuende ging, gab es immerhin einen Rainald Goetz: Dieser schrieb zwischen dem 4. Februar 1998 und dem 10. Januar 1999 als wohl erster renommierter Autor ein Internettagebuch und nannte es "Abfall für alle. Roman eines Jahres". Das Buch zum Blog erschien dann noch im selben Jahr bei Suhrkamp.
2036 Einträge in einem knappen Jahr, das ist was. Immerhin. Los gings mit dem Satz: "Los gehts", und es endete mit der Frage, nein, nicht mit "Wie war ich?", sondern mit: "Und wie war dein Jahr?"
Interessante Frage, auch nach zehn Jahren. Jedoch, ein Roman war "Abfall für alle" nur dem Namen nach, ein Tagebuch nur der Form halber. Goetz war bereits in seinen frühen Texten, dem flüchtigen Moment auf der Spur, mit dem Wissen, ihn nie erreichen zu können, erst recht nicht erzählerisch. Insofern trügt zwar der Klappentext von "Abfall für alle", der vom "erzählen" spricht, aber er zeigt das Projekt an, das Goetz seit seinen Anfängen umtreibt. Er beerbt damit den großen Rolf Dieter Brinkmann und dessen Protokoll-Projekt, das vom Gedicht über den Roman zur illustrierten Tagebuchmontage überging. Gerade an Brinkmanns Roman "Keiner weiß mehr" wurde ja das Unvermögen des Erzählens erkennbar, dem flüchtigen Augenblick Paroli bieten und Wahrnehmung wirklich wiedergeben zu können. Die Notiz, die Reflexion, die Montage scheinen dafür geeigneter zu sein.
Das hat naheliegender Weise einige Banalitäten zur Folge. Wer Texte dieser Art schreibt, schreibt schnell, sofort, viel und einigermaßen ungeprüft, und dabei alles, was ihm oder ihr einfällt. Dazu gehört auch eine Menge, von dem man nichts wissen will und das auch nicht zu den wichtigen Lektüren des Lebens gehört. Aber genau darum geht es, das ist Prinzip - und das ist der Punkt, an dem die Erzählung nicht mehr weiter hilft. Denn sie hebt hervor, sie inszeniert, sie konstruiert die Ereignisse, Wahrnehmungen und Abläufe nach Kriterien, die nicht dem Vorgang inhärent sind, sondern dem Gestaltungsbedürfnis des Erzählers. Von dem aber entfernt sich Goetz wie immer radikaler und dabei besser als alle anderen.
Vielleicht auch, weil er sich dessen bewusst ist, dass der Text allein der Garant dafür ist, dass es etwas gibt, denn der Text hebt auf, er ermöglicht die Reflexion und ihre Speicherung. Viel weiter ist Goetz auch heute, 2008, mit seinem neuen Projekt "Klage" nicht: "Reichts denn schon, so bisschen Nachtleben rumzuforschen und davon zu berichten? Vielen nicht, mir schon. Die Schwierigkeit ist nur, von dort auch wirklich das Erlebte nachhause zu mitzubringen in den Text. Er sollte so bewusstlos, ichstark und zugleich von Autorschaft frei sein, wie das im Geschehen sich verlierende Auftreten des angenehmen, ungedruckten, uneitlen Menschen dort. Viele von genau denen kommen im richtigen Nachtleben zusammen, und die dabei gemachten Erfahrungen wollen im nachträglichen Bericht nicht angeberhaft aufgeplustert werden. Dazu tendiert aber das Geschriebene, weil es so leise ist, will TEXT werden, stolz, hysterisch, gewichtig. In vielen Blogs wird jetzt die grundlegende Erfahrung des Schreibens gemacht, dass das vom eigenen Erleben erzählende Schreiben so lange gut geht und gut klingt, solange die Ichfigur sich selbst und ihren Berichten gegenüber eher blind bleiben kann." So ist es.
Immer noch ist es die schnelle Notiz, die tägliche Niederschrift des Erlebten, Gesehenen und Gedachten, die Goetz - meistens - genügen. Immer noch ist die Schrift das universale Medium, in der sich das Subjekt aussprechen kann und zu sich selbst findet. Soweit so etwas überhaupt möglich ist in einem Medium, in dem das Subjekt sich von sich selbst entfremden muss. Denn nichts ist dem gelebten Augenblick und dem sich selbst gewissen Moment feindlicher als der Versuch, ihn aufzuheben und zu perpetuieren. Aber da wir es hier mit einem Teufelskreis zu tun haben, aus dem nur zu entkommen ist, wenn wir die Gier nach dem gelungenen Augenblick aufgeben, bleibt es dabei: Text.
Die in Deutschland neu gegründete Zeitschrift "Vanity Fair" gab Goetz nach fast zehn Jahren Pause ein Forum - ein Coup, der sich gelohnt hat, denn das "People-Magazin", das - wie die "FAZ" spöttelte - mit Aufsehen erregenden Fotos des ehemaligen österreichischen Finanzministers und seiner Frau werben musste, konnte mit Goetz immerhin eine Popikone vorweisen, die im Feuilleton einiges Aufsehen erregte und für eine umfassende Berichterstattung sorgte. Selbst im Druck, der doch der Schrankenlosigkeit und Schnelligkeit des Netzes Handschellen anzulegen scheint, ist Goetz' "Klage"-Lied immer noch für den einen oder andern Wellenschlag gut, was in diesem Fall vor allem dem Suhrkamp Verlag gut tun wird, der das Buch nun verlegt hat. Selbst der Musikgazette "spex", zu deren Schreibern Goetz vor langen Jahren gehörte, war das Buch einen umfangreichen Essay wert - was immerhin anzeigt, dass in der Popmusikszene Text immer noch ganz gut ankommt.
Und umgekehrt ist Goetz im Netz mittlerweile nicht mehr allein, Elfriede Jelinek hat mittlerweile dort ihr Schreibprojekt "Neid" abgeschlossen. Goetz weiß davon, betrachtet es, und ist von ihren "Negativitätsexzessen" überraschenderweise abgestoßen. Sie kämen ihm so sinnlos vor, meint er, was ein weiteres Mal ein Hinweis darauf ist, dass der große Kollegenbeschimpfer und Feuilletonhasser Goetz am Ende doch vor allem ein Romantiker des Textes ist. "Alles was man nicht bedacht hat, schreit im Text um Hilfe." Oder: "Wo ging die Wahrheit hin, um sich zu verstecken, als sie nicht mehr ausgesprochen werden konnte?" In den Text, wo sonst?
Goetz' Textproduktion, die in "Irre" und "Kontrolliert" noch einen romanhaften Rahmen hatte, läuft hier auf hohem Niveau, quantitativ und qualitativ. Aber auch das erzeugt Probleme. Die Notwendigkeit, Texte einzustellen, geht dabei mit dem Wunsch, Texte zu schreiben, eine zeitweilige Liaison ein. Genau deshalb, weil das Netz ihm neuen Freiraum bietet: "Schön ist das Internet in seiner Leisigkeit, der Unendlichkeit seiner Räume und der Heimlichkeit jedes einzelnen seiner Punkte, von dem irgendwelche geheimen Signale ausgehen." Aber die Unendlichkeit der Netzräume ist nur das eine, die Unabschließbarkeit des Textes ist das andere. Die Erzählung lebt von den Prinzipien Anfang, Mitte und Ende. Das Netztagebuch wird einfach nur begonnen und könnte sich ohne Ende fortsetzen. Die Frage ist aber, warum sollte es das? Und wie groß ist der Aufwand?
Dass wir es hier nicht nur mit dem Problem Beständigkeit zu tun haben, sondern auch den Aufwand im Augen behalten müssen, zeigt sich auch in der Variationsbreite von Goetz' Formen und Themen. Es sind selbstverständlich auch die üblichen und gewohnten: Lektüren, Beobachtungen, Begegnungen, Reisen, Vorträge und Veranstaltungen, Vorhaben, Erzählansätze, wo geht er hin, wen trifft er, wer kommt, wer geht, was kommt im Fernsehen, passiert im Bundestag, was steht in der Zeitung. Die Pseudonyme, die Goetz wählt, sind zwar reduziert, aber bezeichnend: Klage und Goethe, soweit sich nicht weitere in Lektürenotizen verbergen.
Aber neben den Reflexionen und Textkaskaden sind es Berichte, Besprechungen und Aufzeichnungen, die zum Teil schon fast normal gefasst sind: Die Reise nach Israel provoziert offensichtlich erhöhte Textaufmerksamkeit, keine Beschimpfungen, keine Assoziationen, die missverständlich sein könnten. Gelegentlich - vor allem bei Besprechungen - kommt sogar der konventionelle Rezensionsgestus zum Vorschein, der immerhin so etwas wie Normalität simuliert. Wer hätte das von Goetz gedacht? Auch seine kurzzeiligen Texte - bei denen das Lyrik-Etikett nicht vorschnell vergeben sein will - strahlen literarische Normalität aus, die Goetz doch sonst so fern liegt. Sogar ein Sonett lässt sich identifizieren - ob er das so gewollt hat? Auch dass er seine Tageseinträge (fast) immer unter Motti und Überschriften setzt, ist befremdlich, aber es macht Freude. Die Sinnproduktionsmaschine soll wohl doch massiv angetrieben sein. Auch das muss bedacht sein.
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