Evolutionsgedanken als Factory Outlet
Franco Morettis "Stammbäume" der Literaturgeschichte
Von Katja Mellmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas Darwin-Jahr spült manches an die mediale Oberfläche, was sonst unerkannt in der Menge ephemerer Sponti-Ideen eine Weile dahintreiben und schließlich in ewigem Vergessen versinken müsste. Franco Morettis dieser Tage in der Edition Suhrkamp erschienener Essay "Kurven, Karten, Stammbäume" verdient sicherlich Anerkennung für manche der weit ausgreifenden komparatistischen Beobachtungen, die darin eingegangen sind. Von einer Verschlagwortung als evolutionstheoretischen Beitrag zur Literaturgeschichtsschreibung, wie dem kürzlich durch ein Interview in der "FAZ" Vorschub geleistet wurde, ist jedoch entschieden abzuraten.
"Dies ist ein Essay über Literaturgeschichte", heißt es in der Einleitung, und die wörtliche Bedeutung des "Versuchs" muss mit Blick auf den eingeräumten "konzeptionelle[n] Eklektizismus" und den "oft eher tastenden Umgang mit vielen der Beispiele" wohl ernst genommen werden. Auch delegiert Moretti einen großen Teil der Beweislast zu seinen Thesen an seine Ausführungen an anderer Stelle. Sein Anliegen in "Kurven, Karten, Stammbäume" war nicht, eine geschlossene Argumentationskette zu präsentieren und "jedes Schräubchen feinzujustieren", sondern "der Literaturwissenschaft neue Wege zu eröffnen", indem er "mit Kurven, Karten und Stammbäumen drei Arbeitswerkzeuge vor[stellt], mit denen die reale Vielfalt an literarischen Texten bewußt reduziert und auf einer abstrakteren Ebene verhandelt werden soll".
"La letteratura vista da lontano" heißt entsprechend der Titel des 2005 erschienenen italienischen Originals, das noch im selben Jahr ins Englische und daraus nun ins Deutsche übersetzt wurde. Mit diesem Blick ,aus der Ferne', der sozusagen aus der Vogelperspektive allgemeinere Tendenzen und Strukturen wahrnimmt, während der der tiefschürfenden Interpretation des Einzelkunstwerks manchmal den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht, will Moretti eine ganz neue, eine "rationalere Literaturgeschichte" schreiben und exemplifiziert seine drei Haupt-Arbeitsinstrumente "Kurven", "Karten" und "Stammbäume" in je einem Kapitel des gut hundert Seiten umfassenden Essays. Im Kapitel "Kurven" vergleicht er die quantitative Entwicklung der Romanproduktion in mehreren Ländern und meint in den wellenförmigen Kurven eine "heimliche Grundstruktur der Literaturgeschichte" zu erkennen, die auf eine Art "Lebens-Zyklus" von aufeinander folgenden "Generationen" von Romangenres hinweist. Im Kapitel "Karten" werden die Schauplätze aus einigen Beispielen so genannter Dorfgeschichten kartografisch visualisiert und als Widerspiegelung gewisser soziodynamischer Tendenzen des 19. Jahrhunderts gedeutet. Das Kapitel "Stammbäume" enthält Morettis evolutionstheoretische Modellierung von Literaturgeschichte, auf die sich die Rezension im Folgenden aus gegebenem Anlass konzentrieren wird.
Die Frage, ob sich aus Charles Darwins Beschreibung der Naturgeschichte als einer Geschichte von Selektionen auch eine Allgemeine Evolutionstheorie abstrahieren ließe, die in jeweils besonderer Applikation dann auch Wirtschafts-, Gesellschafts-, Ideen-, Kultur- und sonstige "Geschichte" zu erklären vermag, ist nicht neu. Sie ist vielmehr so alt wie die biologische Evolutionstheorie selbst. Schon Darwins Zeitgenosse Herbert Spencer konzipierte gesellschaftliche Differenzierungsprozesse analog zur Entwicklung natürlicher Organismen. Und als "eine Theorie, die zu erklären versucht, wie Unvorhersehbares entsteht", ist die Evolutionstheorie beispielsweise auch noch in Niklas Luhmanns Konzeption einer Evolution sozialer Systeme eingegangen. Solche inzwischen recht avancierten Positionen sind entstanden in Auseinandersetzung mit langen und skrupulösen Debatten darüber, was denn als evolvierende Einheit kultureller Evolution zu konzipieren sei, was in Entsprechung dazu als die Selektionsdruck ausübende Umwelt zu gelten habe und wie das Prinzip der Reproduktion zu reformulieren wäre, wenn die evolvierenden Einheiten sich nicht eigenständig fortpflanzen, sondern auf die interessegeleitete Verwendung durch denkende Individuen angewiesen sind; Fragen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts manchen klugen Kopf beschäftigt und ein umfangreiches Schrifttum hervorgebracht haben. Davon völlig unberührt setzte außerdem Richard Dawkins 1976 mit der Erfindung des "Mems" ein Konzept in die Welt, das um die Jahrtausendwende noch einmal ähnliche Debatten ausgelöst hat. Trotzdem glaubt Moretti, das Rad neu erfinden zu müssen, und nimmt auf keine dieser Traditionen Bezug, sondern entwickelt sein Konzept einer Evolution literarischer Formen aus verstreuten Statements einiger biologischer Denker wie Stephen J. Gould, Ernst Mayr und anderer wieder ganz neu. Auch recht, sofern Morettis eigener Vorschlag nur etwas taugt. Aber taugt er was?
Das Kapitel beginnt mit der berühmten Zeichnung eines Stammbaums der Lebewesen aus Darwins "Entstehung der Arten". Moretti erläutert ausführlich die vertikale Zeitachse von je tausend Generationen und die horizontal veranschaulichte Divergenz artspezifischer Merkmale. Wenige Seiten später präsentiert er seinen ersten "Stammbaum" literarhistorischer Entwicklungen. Allerdings handelt es sich hierbei lediglich um eine als Verzweigungsdiagramm angelegte Merkmalsmatrix, die einen synchronen Querschnitt durch die britische Kriminalerzählung um 1891/92 darstellt und demgemäß ohne Zeitachse auskommt. Nicht weiter verzweigte Äste kommen in diesem Diagramm also wohlgemerkt nicht dadurch zustande, dass die betreffende Variante von Krimis sich historisch als Sackgasse erwiesen hätte, sondern durch die willkürliche Entscheidung des Zeichners, eine bestimmte Merkmalsgruppe nicht weiter nach Untergruppen aufzuschlüsseln. Moretti aber legt, indem er dieses Diagramm einen "Stammbaum" nennt, einen Zusammenhang nahe zwischen den Dead Ends seiner Graphik und "de[m] historisch belegte[n] Sachverhalt, daß genau diese Konkurrenten vergessen worden sind".
Die Unterscheidungskriterien für seine Gruppenbildung gewinnt Moretti übrigens nicht aus einer neutralen Strukturanalyse der synchronen Varietät, sondern aus der deduktiven Vorannahme, "daß in Detektivroman und Detektivgeschichte die Detektiv und Leser leitenden Anhaltspunkte zur Lösung des Falls diejenigen Faktoren seien, deren Veränderungen am meisten über die Geschichte des Genres aussagen". Ein Entwicklungsdiagramm, das von vornherein nach durchsetzungsfähigen und nicht-durchsetzungsfähigen Varianten gliedert, kann freilich nur die eigene Prämisse tautologisch entfalten und verfehlt damit gründlich den Wert der Evolutionstheorie als eines Beschreibungsmodells gerade für zielblind ablaufende Prozesse.
Die nächste Graphik Morettis enthält im Unterschied zur ersten eine Zeitachse und zeigt - vom Verfasser unbemerkt? -, dass die Anzahl der Krimis, die dem Leser keine Anhaltspunkte zur Entschlüsselung des Falls geben, am Ende des betrachteten Zeitraums mindestens ebenso groß ist wie die der Krimis, die dieses tun. Von einem Aussterben aufgrund des "Druck[s] der kulturellen Selektion", wie es pauschal heißt, kann also offenbar keine Rede sein; die (gemäß seinem theoretischen Vorgriff) schlecht angepassten Krimis haben sich mindestens ebenso zahlreich ,reproduziert' wie die gut angepassten. Jedenfalls innerhalb des dargestellten Zeitraums bis 1900. Um den "historisch belegte[n] Sachverhalt", dass diese Variante sich langfristig nicht durchsetzen konnte, evolutionär nachzuvollziehen, hätte man wohl einen Blick in die spätere Entwicklung werfen müssen.
Vorübergehend scheint Moretti sogar die Kardinalfrage nach den evolvierenden Einheiten zu stellen und beschließt, die Texte seien es wohl jedenfalls nicht. Was ihm bei seiner "Morphologie" vorschwebt, ist wohl eher so etwas wie die Evolution formaler Strukturen. Aber schon das wird dem Leser nicht mehr in Form einer ausformulierten These präsentiert, sondern lediglich impliziert dadurch, dass Moretti die homogenisierende Rede von literarischen ,Gattungen' aufgeben und stattdessen das tatsächliche "Spektrum der Vielfalt" zur Geltung bringen möchte. Das Verhältnis von Struktur und Text wäre in evolutionstheoretischer Hinsicht freilich hochinteressant gewesen, handelt es sich dabei doch um ein ähnliches Verhältnis von tatsächlich evolvierendem Genotyp und selektionsrelevantem Phänotyp wie bei Genom und Organismus. Aber Morettis kühner Wurf hält sich mit evolutionstheoretischer Scholastik nicht auf. Und so lässt auch seine lapidare Bezugnahme auf das Mutationsprinzip - die literarischen Neuerfindungen seien "vollkommen zufällige Innovationsversuche" - einige Fragen offen. Wie war das noch gleich mit dem Problem der in kulturelle Evolution mit hineinspielenden Intentionen? Wer sich auf derlei konzeptionelle Fragen neue oder auch nur dem aktuellen Stand der Diskussion angemessene Antworten erwartet, wird von Morettis Buch enttäuscht werden.
Das zweite große Beispiel im Stammbäume-Kapitel ist die weltweite Entwicklung der erlebten Rede. Moretti greift bei seiner ausführlichen Behandlung auf eigene Untersuchungen zu Verbreitung und Funktion dieses Darstellungsmittels zurück, deren Validität hier nicht im Einzelnen diskutiert werden kann und deshalb auch nicht angezweifelt werden soll. Im Kontext des rezensierten Buches dient das Beispiel speziell der Widerlegung der von niemandem vertretenen These, "Konvergenz [sei] der einzige Faktor [der kulturellen Evolution]", und gipfelt in dem Ergebnis, dass es auch in der kulturellen Evolution unumkehrbare Entwicklungen gebe, da die erlebte Rede "niemals gänzlich" mit dem inneren Monolog, sei es in der dialogischen Form der Selbstanrede oder des subjektivistischen stream of consciousness, "zusammenwachsen [konnte], egal, wie nah die zwei Stile einander kamen". Man mag sich fragen, wie eine solche ,gänzlich zusammengewachsene' Spezies grammatisch auch hätte aussehen sollen. Eine Mischform aus "ich" und "er"? Ja, in der Tat, da gibt es auch in der Kulturevolution anscheinend "nicht passierbare" - oder zumindest historisch-faktisch nicht-passierte - "Barrieren" der morphologischen Promiskuität.
Etwas Mühe macht wiederum Morettis graphische Darstellung in diesem Zusammenhang: Die Vertikale stellt den betrachteten Entwicklungszeitraum 1800-2000 dar. Die Horizontale veranschaulicht jedoch nicht (wie in einem Darwin'schen Stammbaum oder in Morettis Verzweigungsdiagrammen zum Kriminalroman) eine Divergenz morphologischer Merkmale, sondern unterschiedliche Kontexte und Funktionalisierungen der (grammatisch ja stabilen) Form erlebter Rede, die sich irgendwie zwischen den Polen "Zweite Person Singular/Mündlichkeit/Kollektivität" und "Erste Person Singular/Gedanken/Individualität" bewegen sollen. So weit, so recht. Als grafische Veranschaulichung der von Moretti ausgeführten Beobachtungen zu unterschiedlichen Verwendungszusammenhängen der erlebten Rede mag das schon taugen. Aber unglücklicherweise meint Moretti damit mal wieder einen "Stammbaum" zu präsentieren und bereitet dem verständniswilligen Leser damit einiges Kopfzerbrechen, wenn dieser sich zum Beispiel fragen muss, ob die erlebte Rede bei Thomas Mann wirklich von der bei Henry James ,abstammt'.
Der Höhepunkt an Absurdität ist erreicht, wenn Moretti die unterschiedlichen Verwendungen der erlebten Rede als "allopatrische Speziationen" bezeichnet. Unter allopatrischer Speziation versteht man in der Evolutionsbiologie die Entstehung einer neuen Spezies durch die geografische Isolation einer Teilpopulation, die sich unter den neuen Umständen so weit von der Ursprungspopulation fort entwickelt, dass auch nach Wegfall der äußeren Barrieren keine Vermischung mit ihr mehr stattfinden kann. Bei Moretti klingt das nun so: "Eine neue Spezies (oder zumindest eine neue formale Anordnung) entsteht, sobald eine Population in ein anderes Gebiet übersiedelt und sich anpassen muß, um zu überleben. Und genau so erging es der erlebten Rede auf ihrem Weg nach Sankt Petersburg, Aci Trezza, Dublin und Ciudad Trujillo." Einmal abgesehen davon, ob die erlebte Rede wirklich von Jane Austen/Hampshire zu James Joyce/Dublin ,hinübergewandert' ist: ein Ortswechsel ist noch keine Isolation und das bloße Überleben ein und derselben Spezies noch keine Entstehung einer neuen Art. Und so ist auch das Überleben ein und derselben grammatischen Struktur in unterschiedlichen Kontexten noch keine morphologische ,Speziation' - und Morettis biologische Analogie von vornherein Unsinn. (Ein anderes evolutionsbiologisches Konzept, das der "Exaptation", hätte ihm an dieser Stelle vielleicht bessere Dienste geleistet, denn es beschreibt den Funktionswandel vorläufig stabiler Strukturen - aus der Schwimmblase des Fisches wird die Lunge der luftatmenden Amphibien und Reptilien -, den Morettis Ausführungen eigentlich zum Thema haben, auch wenn er sich darüber selbst keine Rechenschaft ablegt.)
Zum evolutionstheoretischen Inhalt des Buches gehört außerdem noch ein 25-seitiges Nachwort eines Genetikers namens Alberto Piazza. Darin erfährt man zum Beispiel, dass das Italienische ungefähr so viele Wörter hat wie das menschliche Genom Gene. Und man begegnet, wenn auch sehr versteckt, einigen vorsichtigen Bedenken, ob es sich bei Morettis Rekonstruktionen wirklich um die phylogenetische Darstellungsform des Stammbaums handelt. Im Übrigen stellt Piazza eigene Überlegungen dazu an, inwieweit sich genetische und Literaturevolution analogisieren lassen, und fragt nach den literaturgeschichtlichen Entsprechungen zu den "Evolutionsmechanismen Mutation, natürliche Selektion, Gendrift und Migration". Wieder einer, der das Rad neu erfinden möchte?
Piazzas Ausführungen beanspruchen jedenfalls nicht, mehr zu sein als Seitenblicke eines Naturwissenschaftlers auf Literatur, und zeugen von einem Bewusstsein für den Unterschied zwischen den Disziplinen und deren "jeweilige[m] Erkenntnisinteresse", das Morettis wildes Analogisieren grundsätzlich vermissen lässt. So sympathisch Morettis antihermeneutischer Impuls zur Empirisierung und vogelperspektivischen Analyse manchem zunächst entgegenkommen mag, sein evolutionstheoretischer Persilschein für eine Literaturbetrachtung "auf eine neue Art und Weise" ist doch nur eine Mogelpackung. Weder ist sein Einfall, quantitative Daten und außerliterarische Kontexte mit einzubeziehen und literarischen Wandel als Resultat von Selektionen aufzufassen, so neu und singulär, wie er es marktschreierisch immer wieder betont, noch vermag die konkrete Umsetzung so recht zu überzeugen. Wenn Morettis "Versuch" einer Applikation der Evolutionstheorie auf Literaturgeschichte in irgendeiner Weise ernst genommen werden soll, dann dürfte man wenigstens eine in sich stimmige, methodisch kontrollierte Übertragung der biologischen Konzepte und Modelle (wie "allopatrische Speziation" oder "Stammbaum") erwarten, wenn nicht sogar eine systematische Ausarbeitung des damit prätendierten Theorierahmens. Von ersterem kann, wie gezeigt, keine Rede sein, zu letzterem fehlt jeglicher Wille.
"Ich denke immer, wenn ich einen Druckfehler sehe, es sei etwas Neues erfunden", heißt es in einer von Goethes "Maximen und Reflexionen". Wer mit der frohgemuten Erwartung, hier sei vielleicht etwas Neues erfunden worden, Morettis Broschüre zur Hand nimmt, der muss sich nach erfolgter Lektüre fragen, ob es sich dabei nicht vielmehr um einen einzigen großen Druckfehler handelt - den Fehler nämlich, dieses Sammelsurium von undurchdachten Einfällen überhaupt in den Druck zu geben.
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