Erzählte Gedichte

Narratologische Betrachtungen deutschsprachiger lyrischer Texte vom 16. bis zum 20. Jahrhundert von Jörg Schönert, Peter Hühn und Malte Stein

Von Misia Sophia DomsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Misia Sophia Doms

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit ihrem 2007 publizierten Band verfolgen Jörg Schönert, Peter Hühn und Malte Stein (der allerdings nur für einige konkrete Gedichtanalysen, nicht für die abstrakten Teile des Bandes verantwortlich zeichnet) zwei Ziele. Zum einen wollen sie unter Zuhilfenahme narratologischer Verfahren einen neuen Weg der Gedichtanalyse entwerfen, beschreiten und für andere gangbar machen, zum anderen durch die dabei gewonnenen Einsichten Lücken in den gegenwärtigen Lyriktheorien schließen.

Den erzähltheoretischen Blick auf die Lyrik rechtfertigen Schönert und Hühn in ihrer theoretischen Einleitung mit dem Hinweis darauf, dass nicht nur die Erzählprosa, sondern auch zahlreiche Texte in gebundener Sprache das für die "Narrativität" konstitutive Merkmal der "Sequentialität" aufwiesen: Sie verfügten über eine "zeitliche Organisation und Verkettung einzelner Geschehenselemente und Zustandsveränderungen zu einer kohärenten Abfolge".

Bei der narratologischen Betrachtung eines Gedichtes ist nach ihrer Auffassung die Untersuchung des Geschehens strikt von der Betrachtung seiner Darbietung, das heißt seiner Medialität, zu trennen. Zwar könne man für die Analyse der Letzteren auf die Systematik Gérard Genettes zurückgreifen, doch müssten Kategorien für die angemessene Untersuchung der Sequentialität erst noch entwickelt werden. Dies unternehmen die Verfasser unter Einbindung von Ansätzen der Psycholinguistik und Kognitiven Psychologie, der Sujet-Theorie Jurij M. Lotmanns und Jerome Bruners Konzept von "canonicity and breach".

Die Entstehung der aus Gegebenheiten und Geschehenselementen zusammengesetzten kohärenten Sequenzen (die dann ihrerseits zu einer Geschichte zusammengesetzt werden können) erfolgt nach Auffassung Schönerts und Hühns bei der Textproduktion ebenso wie bei der Textlektüre auf der Basis vorgängiger kognitiver Schemata. Diese ließen sich in "thematische oder situative Kontexte" (Frames) und kulturell vertraute "Sequenzmuster" (Skripts) unterteilen. Dort, wo ein Text vom erwarteten Sequenzmuster abweicht, sprechen die Autoren von einem Ereignis und differenzieren dabei zwischen Geschehens-, Darbietungs-, Vermittlungs- und Rezeptionsereignissen.

Hinsichtlich der Medialität des Gedichts unterscheiden die Verfasser zwischen den "Vermittlungsmodi" mit den Kategorien "Stimme" und "Fokalisierung" einerseits und den "Vermittlungsinstanzen" andererseits. Zu den Letzteren zählen sie den empirischen Autor/Rezipienten, den abstrakten Autor/Rezipienten, den "Erzähler und Adressaten im (Fiktions-)Zusammenhang der Erzählung" sowie sprechende und angeredete Figuren. Diese Instanzen werden von den Wissenschaftlern dabei unter anderem deshalb differenziert, um auch in der Lyrik Fälle erzählerischer Unzuverlässigkeit nachweisen und außerdem "die - als lyriktypisch geltende - anscheinende Unmittelbarkeit der Selbstpräsentation" in Frage stellen zu können.

Die Berechtigung ihres Ansatzes prüfen die Autoren an deutschsprachigen "Gedichte[n] mit deutlicher Selbstreflexivität oder Selbstthematisierung des Sprechers oder der von ihm eingenommenen Rolle sowie der 'aufgerufenen' Einstellungen und Verhaltensweisen, die den Sprecher einer bestimmten Gruppe [...] zuweisen". Erfreulicherweise haben sie dabei nicht nur Lyrik des 19. und 20. Jahrhunderts (ja mit Ilma Rakusas "Limbo" sogar des 21. Jahrhunderts), sondern auch zeitlich früher liegende Texte im Blick. Wie im von Hühn und Jens Kiefer verfassten "Parallelband zur englischen Lyrik" (der Band erschien 2005 unter dem Titel "The Narratological Analysis of Lyric Poetry") ist, in diesem Fall mit einem Lied Paul Schedes, auch die Lyrik des 16. Jahrhunderts vertreten.

15 von 20 interpretierten, deutschsprachigen Gedichten sind allerdings nach 1800 entstanden. Zumindest für die - allerdings nur äußerst vorsichtig formulierten - lyrikgeschichtlichen Überlegungen am Ende des Bandes, die wiederholt von einer Zäsur um 1800 ausgehen, erscheint dies nicht ganz unproblematisch. Bei der Autorenauswahl wurde überwiegend auf Kanonisierung geachtet: Behandelt werden Texte von Wolfgang Schede (Melissus), Andreas Gryphius, Johann Christian Günther, Friedrich Gottlieb Klopstock, Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Hölderlin, Joseph von Eichendorff, Heinrich Heine, Annette von Droste-Hülshoff, Theodor Storm, Ferdinand Meyer, Friedrich Nietzsche, Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke, Bertolt Brecht, Elke Lasker-Schüler, Gottfried Benn, Ingeborg Bachmann, Paul Celan und Ilma Rakusa.

Unter den interpretierten Gedichten finden sich allerdings keineswegs nur solche 'Klassiker' wie Goethes "Harzreise im Winter", sondern auch vergleichsweise seltener interpretierte Texte wie Eichendorffs "Andenken an meinen Bruder" oder Benns "Du übersiehst dich nicht mehr". Auch vermittelt die Analyse, da sie einem innovativen Verfahren folgt, selbst bei extrem häufig interpretierten Gedichten noch neue Einsichten. Die Entscheidung, hier nicht nur einige wenige Beispielanalysen, sondern ein breites Spektrum an exemplarischen Interpretationen anzuführen, kann als glücklich bezeichnet werden. Auf diese Weise wird eindrucksvoll die breite Anwendbarkeit des vorgestellten Ansatzes demonstriert und eine gute Basis für die abschließende "Auswertung der Text-Analysen" geschaffen.

In der Letzteren bemühen sich Schönert und Hühn vor allem darum, die Einzelergebnisse für die Lyriktheorie fruchtbar zu machen. Insbesondere wird in diesem Zusammenhang rekapituliert, welche gattungsspezifischen Eigenheiten des Erzählens in den analysierten Gedichten beobachtet werden konnten. Angeführt wird zunächst ein Überwiegen homo- und dabei insbesondere autodiegetischer Sprecherfiguren. Von den Letzteren wird konstatiert, dass sie sich "in vielen Fällen durch die erzählte Geschichte" in ihrer "individuellen Identität" definierten. Hier operieren Hühn und Schönert mit einem überzeugenden Verständnis lyrischer Subjektivität beziehungsweise Selbstreflexivität, das die bekannten Missverständnisse der älteren Lyrikforschung von vornherein verunmöglicht.

Gegenüber dem in der Erzählprosa dominierenden retrospektiven Erzählen gestaltet sich nach Auffassung Hühns und Schönerts in der Lyrik das Verhältnis zwischen dem Erzählzeitpunkt und dem erzählten Ereignis abwechlungsreicher und vielfach auch komplexer. Es werde häufiger simultan oder prospektiv erzählt. Dabei ergäben sich aus dem Erzählakt oft "erheblichere Auswirkungen auf den Lebensvollzug" des lyrischen Subjekts "als gemeinhin in Erzählungen", vielfach könne von einer Performativität des Gedichtablaufs gesprochen werden.

Lyriktypisch seien außerdem die Fokussierung auf mentale Prozesse, die weitgehende "Situationsabstraktheit" vieler untersuchter Gedichte und ihre "Neigung, Geschehensabläufe [...] in stark geraffter Form zu repräsentieren".

Aus den summarischen Betrachtungen zu den Ereignistypen, die im untersuchten Gedichtcorpus dominieren, leiten Hühn und Schönert ein weiteres Spezifikum der Lyrik ab: Im Vergleich zur prototypischen Erzählprosa (etwa dem Märchen) sei diese mehr von Darbietungs- als von Geschehensereignissen geprägt, was zu einer "besonderen semantischen Komplexität und vielschichtigen Sinndimension" führe.

Typisch für die Lyrik ist in den Augen der Forscher schließlich auch, dass darin in großem Umfang die formalen Anteile des Textes, darunter die ohnehin lyrikspezifischen Elemente Reim und Metrum, erzählerisch funktionalisiert werden können. Dies geschehe nur in Ausnahmefällen durch den Sprecher, in der Regel setze der 'abstrakte Autor' diese "Strukturierungsverfahren" ein.

Über die bis hierher zusammengefassten Betrachtungen hinaus stellen die Autoren im letzten Kapitel des Bandes verallgemeinernde Überlegungen zur komplexen Verknüpfung mehrerer Skripts beziehungsweise Frames an, die sie in den untersuchten Gedichten beobachten konnten. Die sich dabei ergebenden neuen Perspektiven beispielsweise auf den Bereich der lyrischen Bildlichkeit erscheinen durchaus vielversprechend.

Beide mit dem Band verfolgten Ziele - die systematische Entwicklung einer narratologischen Zugangsweise zu konkreten Gedichten wie auch die Bereicherung bisheriger Lyriktheorien - haben die Autoren auf überzeugende Weise erreicht. Es steht zu erwarten, dass das durchgängig gut nachvollziehbare Werk der drei Wissenschaftler künftig nicht nur von Lyrikforschern beachtet wird, sondern - unter anderem auch als Beispiel für stringente Konzept- und Theoriebildung und deren konsequente Anwendung - auch Eingang in universitäre Haupt- und Oberseminare zu Lyrik, Lyriktheorie und Narratologie findet. Auch auf eine künftige praktische Anwendung des Analyseansatzes darf man gespannt sein. Da hier nicht einer Verdrängung, sondern nur einer Ergänzung anderer Zugangsweisen das Wort geredet wird und das von den Verfassern bereitgestellte Instrumentarium an Begriffen und Methoden bei aller gebotenen Differenziertheit überschaubar bleibt, wird sie nicht lange auf sich warten lassen.


Titelbild

Jörg Schönert / Peter Hühn / Malte Stein: Lyrik und Narratologie. Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert.
De Gruyter, München 2007.
333 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-13: 9783110193213

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