Stichwort: Prokrastination
Hilfreiches und Wissenswertes zum kreativen Umgang mit dem Aufschieben
Von Jörg von Bilavsky
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWas passiert wohl, wenn ich diese Rezension nicht rechtzeitig oder gar nicht abliefere? Werde ich dann aus dem Kreis der Mitarbeiter dieser Zeitschrift verbannt oder bekomme ich nur ein enttäuschtes und erbostes Grummeln aus der Redaktion zu hören? Wird mich ein schlechtes Gewissen plagen oder wären mir die Folgen schlichtweg egal? Solche Fragen dürften mich quälen, wäre ich ein eingefleischter Prokrastinierer, also ein Aufschieber, und die zu bewältigende Aufgabe so fürchterlich wie das Ausmisten des Augias-Stalls.
Zum Glück gehört das Lesen und Besprechen von Büchern zu jenen Tätigkeiten, die ich trotz fremdbestimmtem oder selbstgewähltem Termindruck gerne und fast immer pünktlich erledige. Natürlich kann auch ich ein Lied von der Last des Aufschiebens singen. Doch keiner von uns macht dies ohne schlechtes Gewissen. Denn das Aufschieben von Aufgaben und Pflichten hat spätestens seit Luthers Diktum "Der Mensch ist zum Arbeiten geboren wie der Vogel zum Fliegen" einen schlechten Ruf. Daran hat sich auch in Zeiten des Turbokapitalismus nichts geändert. Ganz im Gegenteil.
Es war also höchste Zeit, dieses moralische Tabu zu brechen und allen Betroffenen den Weg von der Last zur Lust zu weisen. Und wer wäre besser dazu geeignet als die bekennenden Profi-Prokrastinierer Kathrin Passig und Sascha Lobo. Als Freiberufler und Kreative wissen sie nur zu gut, wovon die Rede ist. Aber sprechen sie auch für all jene, deren Angestelltendasein und Familienalltag weitgehend von außen diktiert und zeitlich kaum flexibel ist? Wohl eher nicht. Abhängig Beschäftigte dürften über ihre gewitzt formulierten, aber selten widerspruchsfreien und zu Ende gedachten Ratschläge nur den Kopf schütteln. Ebenso wie jene, die sich ein Leben ohne permanente Disziplin und Leistung gar nicht vorstellen können oder wollen. Aber mit denen möchten die beiden Ideengeber der Zentralen Intelligenz Agentur wohl ebenso wenig zu schaffen haben wie mit puren Nichtsnutzen. Ihnen schweben als ideale Rezipienten vielmehr jene Menschen vor, die sich "zwischen den verhärteten Fronten der überfleißigen Arbeitstiere und der alles ablehnenden Faulenzern" befinden. Und davon gibt es genug.
Doch lässt sich mithilfe ihrer Tipps im besten Falle "das Leben so organisieren, dass man das Leben nicht mehr organisieren muss", wie es in der Einleitung heißt? Allein dieser Satz verrät: "Ohne einen Funken Selbstdisziplin" lässt sich auch die Selbstdisziplin nicht aus dem Leben verbannen. Da kann man das Wort im "Praxisteil" noch so oft vermeiden oder verdammen. Denn die Umsetzung ihrer Anregungen erfordert vom Prokrastinierer ein Mindestmaß an Entschlusskraft, die katastrophale Situation ändern zu wollen. Ein Energieaufwand, der ihm ja per se zu fehlen scheint oder zumindest von anderen abgesprochen wird. Wer sich von diesem unkonventionell-konventionellen Ratgeber also Hilfe zur Selbsthilfe erhofft, muss nicht weniger als seine "Haltung zu Menschen und Dingen ändern". Sonst kriegt er die Dinge wohl auch weiterhin nicht geregelt.
Sollte er nicht nur zum Kauf, sondern auch zur Lektüre dieses Buches Kraft und Ausdauer gefunden haben, erwartet den Prokrastinierer ein bunter Reigen gut gemeinter und flott formulierter Ratschläge, aus dem er "nur" noch die richtigen für seine Arbeit und seinen Alltag auswählen muss. Gewiss kein leichtes Unterfangen für Menschen, die oft nicht wissen, wie, wann und welche Prioritäten zu setzen sind. Aber gut. Er wird sich von Passig und Lobo immerhin rasch darin bestärkt fühlen, dass sein "Umfeld mit falschen Erwartungen und überkomplizierten Organisationsstrukturen verseucht" ist und er ein Recht darauf hat, mit "so wenig zusätzlichem Aufwand wie möglich" glücklicher zu werden. Um dieses Ziel zu erreichen, versorgen ihn die vermeintlich faulen Autoren mit einem "Lob der Disziplinlosigkeit", dem "Später-Prinzip", dem "Nutzen des Nichtstuns" oder dem "Aufgeben" als "schnellstem Weg zum Sieg". Geben Handreichungen zum richtigen "Umgang mit Post, Geld und Staat" oder raten zum "Outsourcing" lästiger Haushaltspflichten oder Behördengänge. Wenn das produktive Liegenlassen und Aussitzen dennoch vergeblich ist, hilft immer noch das Mittel der "Ausreden und Entschuldigungen" oder "Vitamin R", der Griff zu konzentrationssteigernden Psychopharmaka wie Ritalin. Beide Wundermittel sollten freilich wohldosiert sein, will man sich nicht ins gesellschaftliche Abseits katapultieren oder gesundheitlich ruinieren.
Am Ende erfordert erfolgreiches Prokrastinieren aber doch das Finden des richtigen Moments zum eigentlichen Tun, Nichtstun oder etwas anderes Tun, das kunstvolle Jonglieren mit diversen Deadlines, To-do-Listen und den Einsatz energiesparender Arbeitsmethoden. Hierzu ist freilich ein nicht zu unterschätzendes Quantum an Intelligenz und Sensibilität vonnöten. Ist dieses vorhanden und wird es situationsgerecht angewandt, so gewinnt der durchschnittliche Prokrastinierer sicherlich an Gelassenheit, Selbstbewusstsein und Motivation. Ob der Gesellschaft aus den Schwächen und Stärken eines "Lifestyle of Bad Organisation" (LOBO) jedoch Vorteile erwachsen, weil Prokrastinierer angeblich seltener zum Arzt gehen und damit die Krankenkassenbeiträge niedrig halten oder mit "Stress und Deadlines angeblich weniger Probleme" haben und kreativer sind, ist schwer die Frage und noch schwerer zu beweisen.
Im Endeffekt wirkt das natürlich im letzten Moment fertiggestellte Buch wie eine geschickt getarnte Selbsttherapie und Selbstvermarktungsstrategie der prokrastinationserfahrenen Autoren und ihrer gleichgesinnten Helfer. Indem die eigenen Probleme thematisiert, schöngeredet und tatsächlich oder vermeintlich gelöst werden, glauben sie die Zwänge der Leistungsgesellschaft hinter sich gelassen zu haben. Doch weder die angeblichen Freigeister Passig und Lobo noch die zur Selbstheilung eingeladenen Leser können diesem System wirklich entfliehen. Denn ohne die "überfleißigen Arbeitstiere" gäbe es keine Regeln und Normen mehr, gegen die sie rebellieren oder die sie geschickt unterlaufen könnten. So verlockend das selbstgeregelte und unangepasste Leben auch scheinen mag, entfalten kann es sich allein unter dem Druck der von ihnen angeprangerten Ideologien und Marktmechanismen. Eine Gesellschaft aus lauter "LOBOs" würde den Lauf der Welt wohl doch mächtig ausbremsen.
Unter dem Druck des kapitalistischen Arbeitsethos entstehen aber nicht allein Strategien zur lustvolleren Bewältigung des Alltags und der Arbeit, sondern auch schöngeistige Literaturen, die dem Prinzip des Aufschubs folgen. Anja Kauß hat die Prokrastination als literarisches Motiv und narrative Strategie unter anderem in den Werken von Marcel Proust, Samuel Beckett, Robert Musil oder Thomas Bernhard, insbesondere aber in den Romanen des belgischen Schriftstellers Jean-Philippe Toussaint entdeckt, analysiert und als neuen literaturwissenschaftlichen Fachbegriff definiert. Wie Passig und Lobo bedeutet für sie Aufschub nichts Negatives oder Krankhaftes, sondern etwas Positives und Kreatives. Das reflektierte Warten ist für sie "Grundvoraussetzung und Grundproblem des schöpferischen Aktes" und eine "umsichtig-skeptische Lebensprogrammatik", wie sie auch Lobo und Passig propagieren. Deswegen versteht sie Prokrastination auch nicht als "Dysfunktion" des menschlichen Gemüts, die diagnostiziert und geheilt werden müsste, sondern als "Funktion und Strategie", die es zu entdecken und zu kultivieren gilt.
Exakt dies haben etwa Autoren wie William Shakespeare im "Hamlet", Iwan Gontscharow im "Oblomow" oder Italo Svevo in "La coscienza die Zeno" gemacht. Mit den unterschiedlichsten literarischen Motiven und Erzählstrategien, aber auch mit ganz unterschiedlichem Reflexions- und Abstraktionsgrad. Anhand dieser Einzelinterpretationen füllt sie den neuen Terminus technicus der Prokrastination mit Inhalt und grenzt ihn von verwandten Begriffen wie der Stagnation, der Suspension oder Disgression klar und überzeugend ab. Um am Ende zum Werk des gegenwärtigen "Meisters" der literarischen Prokrastination vorzustoßen: Jean-Philipp Toussaint, in dessen vielbeachteten Romanen die "Ästhetik des aufschiebenden Verhaltens" exemplarisch sichtbar wird.
Toussaint pflegt die "Unbestimmtheit als spielerisches und ästhetisches Moment", was Anja Kauß mit Blick auf Literaturtheoretiker wie Jacques Derrida, Gilles Deleuze oder Walter Benjamin zu Recht als "nachmodernes und nachdekonstruktivistisches" Erzählen einstuft, das nur bedingt Gemeinsamkeiten mit dem Nouveau Roman aufweist. Insofern stehen sowohl ihre an der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität entstandene Dissertation wie auch das literarische Schaffen des belgischen Bestsellerautors und ehemaligen Juniorenweltmeisters im Scrabble unter berechtigtem Originalitätsverdacht. Sprich ihre flüssig geschriebene, manchmal sich im Labyrinth der Fachsprache verlierende Arbeit gibt wissenswerte Einblicke in das fiktive wie auch ganz reale Phänomen der Prokrastination und ist gewiss nicht das Ergebnis kreativen Müßiggangs. Übrigens genauso wenig wie der faktenreiche Lebensratgeber von Passig und Lobo.
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