Briefe einer Ausstellung

Anne Bohnenkamp und Waltraud Wiethölter geben Aufsätze zur Materialität schriftlicher Korrespondenzen heraus

Von Marie Isabel SchlinzigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marie Isabel Schlinzig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Briefe verbrannt. Schöne grüne Farbe der Flamme, wenn das Papier nahe am Drahtgitter brennt", notierte Johann Wolfgang von Goethe in seinem Tagebuch, nachdem er fast die gesamte der von ihm bis 1793 erhaltenen Korrespondenz vernichtet hatte. Dass er deren Verlust bald darauf bedauerte, hielt den Dichter nicht davon ab, Zeit seines Lebens immer wieder Briefschaften dem Feuer zu übergeben. Wie viele andere vor und nach ihm suchte der Weimarer auf diese Weise die Überlieferung seiner Korrespondenzen an die Nachwelt mitzugestalten.

Die Archivierung von Briefen ist eines der Themen, denen sich im Herbst 2008 die Ausstellung "Der Brief - Ereignis und Objekt" des Freien Deutschen Hochstifts widmete. Der derzeit im Handel erhältliche Begleitkatalog versammelt eine Reihe wissenschaftlicher Essays sowie - diesen thematisch zugeordnet - Abbildungen eines Großteils der ausgestellten Briefe und Objekte. Mit Blick auf die deutschsprachige Briefkultur von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart diskutieren verschiedene Autoren bekannte sowie bislang von der Forschung tendenziell vernachlässigte Aspekte der Materialität des Privatbriefs und deren Bedeutsamkeit für die Medien-, Literatur- und Kunstgeschichte.

Eindrücklich führen Texte wie Bilder vor, was sich im kurzen Vorwort der Herausgeberinnen als grundlegende Motivation des gesamten Projekts herauskristallisiert: dass Briefe, die - herkömmlichen Editionsverfahren folgend - auf Texte reduziert werden, "keine Briefe mehr" sind. Die sinnliche Existenz des Mediums macht sein eigentliches, sein einmaliges Wesen aus. Bereits in der Wahl von Papier und Schreibgeräten oder auch in der Gestaltung des Blattraums (der Topologie) liegen Botschaften verborgen, die sich zum 'Sprechen' bringen lassen: So erweist sich Goethes charakteristische Handschrift bei genauerem Hinsehen auch als ein Produkt qualitativ variabler Gänsefedern und Eisengallustinten; als Beethoven sich brieflich an seine "Unsterbliche Geliebte" wendet, wählt er ganz bewusst ihren Bleistift; und Hermann Hesse versteht es ungewöhnlich schnell, seiner neuen Schreibmaschine mit Hilfe verschiedener Farbbänder graphisches Gestaltungspotential abzuringen. In einem Schreiben Franz Kafkas vom Oktober 1907 schließlich finden sich situationsgebunden alle drei Schreibgeräte vereint: Der Brief wird - wie sein Autor meint - zur "Dreischriftfahne".

In der Tat werden die materiellen Gegebenheiten brieflicher Korrespondenz häufig selbst zum Thema des Nachrichtenaustauschs. In Form und Inhalt des Briefes bilden sich auch auf dieser Ebene soziale Konventionen, individuelle Schicksale oder allgemeinhistorische Veränderungen ab. Briefgeschichte, wird beispielsweise mit Blick auf letztere im Laufe der Lektüre deutlich, - ist nicht zuletzt Technikgeschichte. Anschaulich führt dies der ausgezeichnete Essay von Konrad Heumann vor, der sich "Archivierungsspuren" unterschiedlichster Art widmet. Neben der eingangs anzitierten Selektionspolitik Goethes skizziert der Autor unter anderem auf spannende Weise die Entwicklung von Papier-Kopiertechniken, die heute fast völlig in Vergessenheit geraten sind.

Materiell begründete Fehlleistungen ebenso wie technische Errungenschaften stellen, so wird in diesem Zusammenhang ebenfalls deutlich, den Briefschreiber immer wieder vor Herausforderungen. Die Art, wie er diesen begegnet, kann durchaus zum Gradmesser seiner Individualität werden; darüber hinaus verweist sie auf die ungeheure Wandlungsfähigkeit des Mediums, das der sich im Gegenüber zweier Menschen entfaltenden Kreativität einen ganz eigenen, und - zumindest theoretisch - intimen Raum bietet. So geraten, um nur ein Beispiel zu nennen, Georg Christoph Lichtenberg die von seiner nicht ganz diensttauglichen Feder verursachten Tintenkleckse zum Ausdrucksmittel, mit dessen Hilfe er genüsslich die Briefetikette seiner Zeit (gewissermaßen als Stellvertreternorm) unterläuft.

Das sich hierin - wie schon bei Hesse - andeutende gestalterische Potential des Briefschreibens wird in den Bild- und Malbriefen von Künstlern des letzten Jahrhunderts zum teils dominierenden Element. Ein fließendes Verhältnis zwischen Schrift und Bild kennzeichnet diese Briefe, das Waltraud Wiethölter im umfangreichsten (und stellenweise etwas theorielastigen) Beitrag des Katalogs unter dem Begriff der "Ikono-Graphie" zu erfassen sucht. Briefillustrationen zählen keineswegs zu den Erfindungen der Moderne. Allerdings führt der steigende Grad an Abstraktion in der Kunst seit dem frühen 20. Jahrhundert zu neuen Formen der Verschmelzung zwischen Schreiben und grafischem Darstellen, die in Bild- bzw. Malbriefen einen ihnen genuinen Ort finden. Für Künstler wie Carlfriedrich Claus, Willi Baumeister oder Horst Janssen sind diese Korrespondenzen längst ein Bestandteil ihres Werkes, der zumeist nicht reduzierbar ist auf den Begriff des Experimentierfelds oder des Ideenarchivs, als welche Dichter, wie beispielsweise Jean Paul, ihre Briefe durchaus benutzten.

Nicht nur in seiner Eigenschaft als Kunstwerk, auch als Alltagsobjekt ist jeder eigenhändig verfasste Brief ein Unikat: Als Ausdruck einer bestimmten Person und Situation schreibt man ihm seit der Antike eine Stellvertreterfunktion zu. Als Objekt, das die Spuren der körperlichen und geistigen Existenz des Anderen, des Entfernten trägt, wird er den Empfindsamen des späten 18. Jahrhunderts zur "Berührungsreliquie". Tränenspuren, nachträglich eingefügte Korrekturen oder Kommentare, Unregelmäßigkeiten der Handschrift, Vermerke zu Briefbeigaben und Spuren des Versands (wie Faltung, Siegellack, Stempel oder Schwärzungen durch Zensurbehören) bezeugen sämtlich auf ihre jeweils eigene Art die Umstände sowohl der Entstehung, des Empfangs wie des dazwischen liegenden Wegs einer Botschaft. So ist ein Brief noch vor seiner Archivierung für die Nachwelt bereits ein Speicher, der eine Reihe von Vorgängen durchlaufen hat, sie bezeugt und sie - zumindest im Ergebnis - verkörpert.

Eine Entsprechung dieses Gedankens scheint aus den Aufsätzen sämtlicher Autoren hervor und wird von den Herausgeberinnen selbst auf den Begriff gebracht, wenn sie - mit Blick auf den in unserer von elektronischen Kommunikationsmitteln dominierten Welt zunehmend ein Schattendasein fristenden Privatbrief - von "vorsorglicher Erinnerungsarbeit" sprechen. Diese leisten alle Beiträge des Katalogs mit guten, einige mit hervorragenden Resultaten. So wirkt es beispielsweise eher unglücklich, wenn im Essay über "Briefbeigaben" erklärt wird, es handele sich hierbei um ein wenig erforschtes Thema, der Beitrag andererseits aber zu den allerkürzesten und zumindest stellenweise zu den oberflächlichsten des Katalogs zählt.

Die Brief- und Objektabbildungen sorgen demgegenüber, von zu vernachlässigenden Ausnahmen abgesehen, für optischen Hochgenuss. Dessen Höhepunkt ist sicherlich ein auf zwei ausfaltbaren Doppelseiten wiedergegebener Bildbrief Horst Janssens an Kerstin Schlüter. Typografisch wirkt der Katalog stellenweise ein wenig zu unruhig, insbesondere da, wo Kataloginformation, Essaytext, Kommentar zum Ausstellungsstück und Brieftranskription auf engstem Raum abgedruckt sind. Auch wirkt die Wahl der transkribierten Briefstellen teils etwas willkürlich, im Aufsatz zur "Ikono-Graphie" etwa hätte man sich weit regelmäßiger Wiedergaben auch des Geschriebenen gewünscht, um dessen Verhältnis zum Gemalt-Gezeichneten besser beurteilen zu können. Der mehr oder weniger vollständige Verzicht auf Kommentare zu elektronischen Varianten des zeitgenössischen privaten Brief- oder richtiger E-Mail-Verkehrs ist zwar angesichts der Grundkonzeption des Projekts durchaus begründet, dennoch wirkt er bedauerlich. Angesichts dieser Leerstelle kommt einem die vorsorgliche Erinnerungs- stellenweise wie eine Art abweisende Trauerarbeit vor, die die Kreativität vergangener Briefschreibergenerationen feiert, den gegenwärtigen jedoch nicht zutraut, individuellen Gestaltungswillen in neue Medien transferieren zu können.

Der am Medium Brief im allgemeinen und an dessen Materialität im Besonderen wissenschaftlich Interessierte wird den einzelnen Beiträgen, die zudem durch Verweise auf einschlägige Sekundärliteratur angereichert sind, wertvolle Hinweise für die eigene Arbeit entnehmen können. Im Übrigen sei der Band vor allem leidenschaftlichen Briefschreibern empfohlen und zwar zur Anregung oder auch Weiterentwicklung eigener gestalterischer Ideen. Denn schließlich sind letztlich sie es, die dem papiernen Privatbrief eine Nische bieten, in der er fortexistiert, und die ihn so vielleicht doch noch vor dem Aussterben bewahren können.


Titelbild

Anne Bohnenkamp / Waltraud Wiethölter (Hg.): Der Brief - Ereignis und Objekt.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
325 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783866000315

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