Diese nicht verrührte Gemischtheit der Welt

In "Erinnerung an die Hoffnung" praktiziert Andreas Okopenko eine ironisch-kritische Selbstbeschau

Von Andreas TiefenbacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Tiefenbacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er hat als Achtjähriger in Unkenntnis der Spielregeln beim Fußball ein Eigentor erzielt und daraufhin "unter dem Beifall des Lehrers" Prügel bezogen. Er mag Algebra und hat eine unstillbare "Sehnsucht nach den Mädchen". Er setzt sich "für Gewaltlosigkeit, für gleiche Chancen aller Menschen, für optimale Güter- und Werteverteilung" ein. Er schwärmt "von den Rechenmaschinen der Forstingenieure" und bekennt sich, seit er 13 ist, "zur totalen Gleichberechtigung".

Er hat "Landschaft [...] fast ebenso gern (wie) dicke Frauen". Er ist "nie anständig geworden", obwohl er Anfang der 1970er-Jahre "etwas überraschend Solides" versucht hat, "nämlich eine Ehe". Er schwimmt "breiten Brustkorbs gegen den Strom", wünscht sich eine "klassenlose, konfliktlose, repressionslose Gesellschaft" und vereint neben der "Liebe zur Landschaft" auch die Liebe "zu Weite und Detail, Buntheit und Bewegung" in sich.

Er ist "ein passiver Linker" und glaubt, dass "wir in wenigen Millionen Jahren schon richtige Menschen ohne Kriege und Gemeinheiten sein werden". Er sagt "ja zum Abbau der Eliten" und steht manchmal "wie ein Storch auf einem Bein" vor dem Kühlschrank, liest dort ein Andersenmärchen und bricht dabei in Tränen aus. Er verfügt über "ethisches Engagement" und hat immer mit "den Aufrührern" sympathisiert.

Zur Welt gekommen ist er 1930 in Kosice, aufgewachsen "im slowakischen Erzgebirge" (einem "Paradies, gewissermaßen") und der "Karpatoukraine", wo 1938 - als er gerade einmal acht Jahre alt ist - das Kriegsrecht herrscht und "Ukrainer abgehäutet [...] an Waldbäume gebunden" werden.

Im März 1939 gelangen seine Eltern und er "als unerwünschte Ausländer zu [...] Verwandten nach Wien". Dort lebt er heute noch, obwohl er auf dem Weg zum Österreicher "von diversen Dornen [...] gestochen" worden ist, wie etwa in Gestalt jenes schreienden Beamten, der ihm den "Anspruch in Österreich zu wohnen" verwehren will.

Trotz derlei negativer Erfahrungen als sogenannter "Zuagraaster" lebt er "gern in diesem Land", auch wenn er sich als "Sprachkrüppel" fühlt, weil er "nicht wie ein normaler Mensch in einem Dialekt" wurzelt.

Sein Vorliebnehmenmüssen mit einer "unter anderem österreichisch gefärbten Umgangssprache" hat allerdings zum Vorteil, "von der geläufigen Phrase" unabhängig zu sein. Und darin fußt letztendlich seine Einzigartigkeit, die ihn zwar - man möchte fast sagen naturgemäß - "bis heute zwischen allen Stühlen" sitzen lässt; doch haben es seine Gedichte "wegen ihrer zeitkritischen und spießerfeindlichen Bissigkeit", "durch Frechheit und Verrücktheit" geschafft, "bis ins Parlament hinauf" Aufsehen zu erregen.

Leider hat dieses Aufsehen nicht gleichzeitig dazu geführt, dass er "durch ein gesundes Ausmaß von Werkhonoraren" gütlich zu leben vermag, sondern nach wie vor gezwungen ist, auf Basis von "Hörspielerträgen und künstlerischen Einnahmen wie Preisen und Stipendien" dahinzuvegetieren. Dennoch ist er, der mit neun Mathematiker werden will, später sieben Semester Chemie studiert und dann nach "siebzehn Bürojahren" 1968 "endlich freischaffender Schriftsteller" wird, "mit der Berufswahl zufrieden".

Wie, das bringt der "einzelgängerische Phänomenologe", "Avantgardist" und "Lyrik-Rowdy" Andreas Okopenko, von dem hier die Rede ist, in seiner schriftstellerischen Arbeit deutlich zum Ausdruck. Er betreibt "Dichten immer engagiert: kommunikationsengagiert, lebensengagiert", "mit der Akribie des Naturwissenschafters". Er mischt "zwischenmenschlich Gefühlvolles mit Nüchternem, politisch oder erotisch Bekenntnishaftes mit Spott und Blödelei, [...] Todtrauriges mit Verschrobenem, zarte Schwärmerei mit derbem Sex", was möglich macht, "durch das Auffällige hindurch das Wesentliche zu sehen", "das Vernagelte von Menschen" und "diese nicht verrührte Gemischtheit der Welt".

Deren sprachliche Gestaltung gelingt so souverän wohl nur jemandem, der wie Okopenko "zeitfremd-zeitvoraus" in ihr herumstiefelt und sich gut auskennt "beim Ausbruch aus dem Rauhbeinigen ins Duftige". Und natürlich scheint man mit "seltsamer Empfindlichkeit und Schärfe, seltsamen Gewohnheiten und seltsamem Schreiben" wie geschaffen dafür, "von manchen sehr geachtet, im allgemeinen aber sehr abgesondert und vereinsamend gelassen" zu werden.

Die Schar der Okopenko-Bewunderer zu erweitern, dazu mag dieser Band "Gesammelte autobiographische Aufsätze" beitragen. Erstens, weil er einem die "Bewegungsfreude, Schaufreude, Erkennensfreude, Formulierungsfreude, Mitteilungsfreude" dieses feinfühligen Dichters näher bringt, der sich auf "Traumprotokoll, Bilderbogen, Montage, Utopie" genauso versteht wie auf Chanson und Lockergedicht. Zweitens, weil man hier einem Menschen begegnet, der offenherzig über seine Vorlieben und Neigungen, seine Gewohnheiten und Denkpositionen, über seinen Vater, einem "Fürsorger der Ukraine", seine "östliche Kindheit", "das ewige Kritzeln" und schließlich sogar noch über sein "Vermächtnis" referiert und zeitlich einen Bogen über fast das gesamte 20. Jahrhundert spannt.

Die Texte, die fünf chronologischen Themenblöcken zugeordnet und denen auch einige aufschlussreiche Schwarzweißfotografien beigefügt worden sind, basieren unter anderem auch auf "Chronik-Notationen aus Dokumenten und Photos, den Gedächtnissen und Aufzeichnungen" seiner Angehörigen und von ihm selbst, sowie auf "östlichen Büchern zu Landschaft und Zeitgeschichte".

Viele der hier versammelten Beiträge aus beinah 40 Jahren sind vorab schon in Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien erschienen. Ihnen zugrunde liegt die große "Begeisterung für das Festhalten und Mitteilen des Augenblickserlebens" ihres Verfassers. Der will mit diesem Buch keinen "Versuch einer kontinuierlichen Selbstbiographie" unternehmen, begreift er "Biographisieren" doch als sich "nicht als Besonderheit von den anderen" Abheben und als sich "als einfaches Exempel im Selbstversuch" Anbieten.

Okopenkos Selbstversuch hat jedoch auch "ein Rattenschwanz von beruflichen, literarischen, weltanschaulichen Krisen" nichts anzuhaben vermocht. Im Gegenteil: Sein Ergebnis beeindruckt, aus historischer wie aus literarischer Perspektive.


Titelbild

Andreas Okopenko: Erinnerung an die Hoffnung. Gesammelte autobiographische Aufsätze.
Klever Verlag, Wien 2008.
276 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783902665041

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