Zwischen Erinnerung und Vision

Paul Celans erster Gedichtband in einer Neuausgabe zum Jubiläumsjahr

Von Kim LandgrafRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kim Landgraf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 23. November des Jahres 2000 jährt sich der Geburtstag Paul Celans zum achzigsten Mal. Am 1. Mai 1970 wurde der Leichnam des Dichters zehn Kilometer flussabwärts von Paris bei Courbevoie am Rande der Seine, in der er den Freitod gesucht hat, geborgen.

Aus Anlass dieses doppelten Gedenkjahres hat die Deutsche Verlagsanstalt, bei der im Dezember 1952 Celans erster autorisierter Gedichtband erschien, "Mohn und Gedächtnis" neu aufgelegt und mit einem Nachwort versehen, das zum einen die Publikationsgeschichte des Buches anhand teilweise unbekannter Dokumente aus dem Verlagsarchiv minuziös nachzeichnet - auch das schwierige Kapitel der Teilnahme Celans am Niendorfer Treffen der Gruppe 47 im Mai 1952 kommt hier zum Tragen - und zum anderen knapp und verständlich zentrale thematische Aspekte des Bandes - Erinnerung, Sprache, Zeit und Begegnung - sowie die Bedeutung etwa der zyklischen Anlage beleuchtet. Zudem wurde der Textbestand selbst auf der Grundlage verschiedener Zeugnisse, über die eine editorische Notiz sehr genau Auskunft gibt, völlig neu durchgesehen und korrigiert.

Die Deutsche Verlags-Anstalt hat sich damit erneut um einen Autor verdient gemacht, der zu den wortmächtigsten und gleichwohl verstörendsten Lyrikern der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehört und der erst durch die Publikation von "Mohn und Gedächtnis" einem breiteren Publikum zugänglich gemacht wurde. Bis dahin war Celan in Deutschland fast vollständig unbekannt. Mehrere Einzelpublikationen seiner Gedichte in Zeitschriften und einem Sammelband waren nahezu unbeachtet geblieben.

Die Wiener avantgardistische Literaturszene um Otto Basil, Herausgeber des "Plan", in dem vor Celan schon Ilse Aichinger, Erich Fried und Friederike Mayröcker veröffentlicht hatten, war klein. Sein Prosadebüt "Edgar Jené. Der Traum vom Traume" (August 1948) war ebenfalls über die Wiener surrealistische Szene hinaus kaum bekannt. Zudem strotze der erste Gedichtband Paul Celans, der im September 1948 unter dem Titel "Der Sand aus den Urnen" bei Sexl erschienen war, derart vor Druckfehlern - "Wie groß war mein Entsetzen, als ich es bekam!" -, dass Celan das Buch kurz darauf wieder aus dem Verkehr ziehen und einstampfen ließ. Die erste und letzte Abrechnung des Verlages vom 19. März 1952 verzeichnet 9 verkaufte Exemplare, für die er ein Honorar von 146,- Schilling erhielt, einschließlich "Erlös für Altpapier". Doch zu dieser Zeit war Celan aber längst in Paris und hatte ein neues, nicht weniger schwieriges Leben begonnen. Dort erreichte ihn auch die Einladung zur Tagung nach Niendorf, die trotz vernichtender Umstände eine verlegerische Heimat für "Mohn und Gedächtnis" herbeiführte, in dem "Der Sand aus den Urnen" in leicht veränderter Form den ersten Teil bildet.

Weitere Einzelheiten, auch rezeptionsgeschichtlicher und interpretatorischer Art sind dem vorzüglichen Nachwort von Joachim Seng, der sich durch verschiedene Aufsätze und einer umfangreichen Arbeit zur "Zyklischen Komposition bei Paul Celan" einen Namen gemacht hat, zu entnehmen. Aufgabe der Rezension soll es deswegen sein, mit Nachdruck auf das eigentliche Ziel dieser Ausgabe hinzuweisen, nämlich den Band "auch heute noch wie eine Neuentdeckung zu lesen" : im unverstellten Blick auf den Text, frei vom Ballast der Fußnoten, Vorstufen und Kommentare, die Wirkung von sich aus entfaltend.

Denn leider hat Celan den Nachteil, viele Leser vor ihm in Ehrfurcht erstarren zu lassen, teils aus Unverständnis und mangelnder Kenntnis, teils aus Furcht vor der Konfrontation mit einer schwierigen Thematik (Tod, Shoah und Vergessen), teils auch aus tiefem Respekt vor der Stärke und Komplexität vieler Texte, zu denen kein selbstverständlicher Zugang mehr möglich erscheint. Dies hat zur Folge, dass sich ein merkwürdiges Insidertum sich herausbilden konnte. Die Auseinandersetzung mit seiner Lyrik und Prosa in der germanistischen Forschung hat zwar lange Regalmeter an ernster und ernstzunehmender Sekundärliteratur hervorgebracht, doch die literarisch interessierte Öffentlichkeit kaum mehr als die sogenannten Grundtexte, die seit geraumer Zeit kanonisiert und zum Teil schon zu Lebzeiten des Autors zur Schul- und Pflichtlektüre geworden sind. Der lebendige Umgang mit den Gedichten geht dadurch verloren, statt "Herzland" wird Kopfland erreicht.

Dabei birgt gerade auch dieser Band Schätze, die neben der "Todesfuge", "Corona" und "Zähle die Mandeln" den Nachvollzug lohnen, die zu sprechen beginnen und die Lektüre zum Dialog werden lassen, auf den sie angelegt sind. Man muss die Gedichte, wie Celan selbst auf die Frage nach ihrem Verständnis sagt, lesen, immer wieder lesen. Und dazu muss man ein Buch besitzen, das immer griffbereit ist und das man gerne zur Hand nimmt, wie eben diese, außen wie innen so außergewöhnlich gestaltete Ausgabe. Und wer den Preis scheut, dem sei aus Kenntnis der Lage versprochen: es ist nicht zu teuer. Weder das Buch noch was man an Text darin findet. Es ist ein Schatz!

Titelbild

Paul Celan: Mohn und Gedächtnis.
Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2000.
100 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3421052239
ISBN-13: 9783421052230

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