Vom Kampf gegen indische Windmühlen

In seinem Debütroman "Der Weiße Tiger" zeigt Aravind Adiga ein Indien-Bild jenseits von Bollywood

Von Meike BlatzheimRSS-Newsfeed neuer Artikel von Meike Blatzheim

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Aravind Adiga, Shooting-Star der indisch-britischen Literatur und Booker-Preisträger 2008, hat seine Hausaufgaben gemacht. In bester Schelmenroman-Tradition folgt sein Held Balram den Taugenichtsen der Weltliteratur - und gleicht in seinem unbedingten Aufstiegswillen dem Land, in dem er aufwächst. Dieses Indien, die selbsternannte größte Demokratie der Welt, kommt nicht gut weg bei Adiga und hat mit gängigen Bollywood-Bildern wenig zu tun. "Heutzutage gibt es bloß noch zwei Kasten", lässt er Balram feststellen, "Menschen mit großen Bäuchen und Menschen mit kleinen Bäuchen. Und nur zwei Schicksale: fressen - oder gefressen werden."

Balram gehört zu denen mit den kleinen Bäuchen - und trotzdem will er nicht gefressen werden. Eine Besonderheit ist er damit in Adigas Indien, ein Weißer Tiger, der sich nicht in den "indischen Hühnerkäfig" aus Angst und Abhängigkeiten sperren lässt. Dass die Befreiung Opfer mit sich bringen wird - daran lässt Balram, der seine Geschichte, in einem der Bürotürme im indischen "Silicon Valley" Bangalores sitzend, in sieben Nächten an den chinesischen Ministerpräsidenten schreibt, von Beginn an keine Zweifel. Der Aufstieg durch Bildung bleibt ihm verwehrt. Die Familie ist arm, nimmt ihn nach der Hochzeit einer Cousine "halb gar" von der Schule. Als Fahrer des reichen Mr. Ashok gelangt er nach Delhi und auch wenn Ashok weit weniger skrupellos ist als die anderen Herren, wächst Balrams Zorn.

Ein Kampf gegen Windmühlen ist der Versuch, den Aufstieg mit ehrlichen Mitteln zu schaffen. Wer es in Indien zu etwas bringen will, so lehrt uns Balram, der muss die Moral über Bord werfen. Und da er ohnehin ein leidenschaftlicher Hochstapler und notorischer Lügner ist, scheut er sich nicht vor dem Notwendigen: dem Mord an seinem Herrn. Dass er nach indischen Gesetzen damit gleichsam seine Familie auslöscht, nimmt er in Kauf - ein Weißer Tiger kennt keinen Schmerz. Ein Büffel im Schlachterviertel Delhis, der einen Karren mit toten Büffeln beladen hinter sich herzieht, ihn zu seinem Bestimmungsort bringt, ohne dass ein Herr ihn antriebe, wird zu Balrams einzigem Alptraum. "Er zog den Wagen voller toter, gehäuteter Gesichter an mir vorbei", heißt es. "In diesem Augenblick kamen sie mir vor wie die Gesichter meiner eigenen Familie."

Zur Melancholie und zu Schuldgefühlen neigt Balram ansonsten nicht. Im Gegenteil: wie ein kleiner dunkelhäutiger Teufel hüpft er durch seine Geschichte und sein scharf ausgestoßenes, triumphierendes "Ha!" begleitet den Leser wie ein Mantra. Überhaupt lässt sich der Tonfall seines Erzählens am ehesten mit Respektlosigkeit beschreiben, Zynismus auch, und geprägt von tiefschwarzem Humor. Balram ist einer, der alles hinter sich hat, einer, der sich nicht mehr zu fürchten braucht, weil er alle Grenzen überschritten hat.

Die Amoralität Indiens indes schützt auch denjenigen, der schuldig geworden ist. Das Bild auf dem Fahndungsplakat ist so beliebig, dass sich ein Armer auf dem Bahnhof darauf zu erkennen glaubt, nachdem Balram ihm, dem Analphabeten, weis gemacht hat, es handle sich um einen Helden, nicht um einen Verbrecher. Und der Polizeiinspektor von Bangalore, auf dessen Unterstützung sich Balrams Erfolg als Unternehmer gründet, kommt nicht auf die Idee, dass der reiche Mann vor ihm identisch sein könnte mit demjenigen auf dem Fahndungsplakat hinter ihm. Ein anderes Indien - das erträumt sich Adigas Erzähler trotzdem. Auf einer der letzten Seiten des Buchs kehrt er - auf der Suche nach einer Lösung für die Probleme des Landes - zurück zum Ausgangspunkt: "Eine Schule voller Weißer Tiger, die auf Bangalore losgelassen werden! Ich sage Ihnen, so würden wir diese Stadt in die Knie zwingen." Utopie klingt da mit, Revolution, Idealismus - und gleichzeitig nähert sich der Roman spätestens hier gefährlich dem Sozialkitsch an.

Man könnte es auch anders sagen: Adiga hat seine Hausaufgaben zu gut gemacht. Denn der Text, der beißen soll, will eigentlich nur spielen. Mit seinem schwarzen Humor, den zahlreichen Verweisen auf die Literaturgeschichte und einem Erzähler, der viel zu viel weiß, um tatsächlich als indischer Underdog durchzugehen, nimmt er sich selbst nicht richtig ernst. Herausgekommen ist ein gefälliger Roman, dessen politische Provokationen allenfalls an der Oberfläche kratzen.


Titelbild

Aravind Adiga: Der weisse Tiger. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Ingo Herzke.
Verlag C.H.Beck, München 2008.
320 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783406576911

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