Kontingenztoleranz

Siegfried J. Schmidt flirtet in seinem neuen Buch mit der Medienwelt

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Gesellschaftstheorie ist der Status neuer Medien von besonderem Interesse, weil mindestens gesellschaftliche Kommunikation von ihnen bestimmt wird. Darüber hinaus übernehmen sie aber auch Funktionen wie Reflexion, Simulation, Sozialisation und Archivierung. Spätestens mit dem Aufstieg der Systemtheorie sind Medien zudem in eine denkwürdige Position gerückt: Wenn Systeme über Zustandsänderung miteinander kommunizieren, das heißt nicht über den Austausch von Nachrichten, dann geben Medien keinen Aufschluss darüber, was außerhalb des Systems geschieht, sondern über die Konstituenten des Systems selbst. Das aber ist eine Problematik, die auf der basalen Ebene systemischer Theorie angesiedelt ist. Auf der Ebene gesellschaftlicher Praxis verschärft sich in Mediengesellschaften unter dieser Perspektive das Problem der Authentizität, da in der Debatte in der Regel von der Dualität von Realität und Darstellung, Authentizität und Fiktion ausgegangen wird. Das bedeutet, dass die Schwelle zwischen theoretischer Konstruktion und gesellschaftlicher Praxis nicht überschritten wird, und - und damit sind wir beim Band von Siegfried J. Schmidt - auch nicht durch Operationen wie Prozessualisierung und Pragmatisierung.

Eine der weitreichendsten Konsequenzen der Systemtheorie ist die Einsicht, dass gesellschaftliche Systeme nicht auf festen, am Ende sogar ewigen Maßstäben aufsetzen und sie jeweils ihren Bedingungen anpassen, sondern dass sie sich selbst generierende, beobachtende und reflektierende Formen sind, die ihren Zusammenhalt und ihre Fortsetzung in einem permanenten Prozess sichern müssen. Das ist einem Denken, das Ordnung als Ableitung und Struktur einerseits, als Orientierung und sichere Handlungsanleitung bis in die Details menschlichen Handelns andererseits auffasst, notwendig zutiefst fremd. Die Systemtheorie verschärft damit ein Problem, das in der Geschichte der modernen Gesellschaft und ihrer internen Organisation eine zentrale Position einnimmt: Kontingenz. Kontingenz, verstanden als Einsicht darin, dass in der Komplexität gesellschaftlichen Handelns klare und direkte Ableitungen stark verkürzt werden und in der Redundanz, im Rauschen des Geschehens verschwinden, führt schließlich - so die Furcht - zur Beliebigkeit menschlichen und gesellschaftlichen Handelns überhaupt. Damit aber geraten wir ohne weiteres in die kulturpolitischen Debatten, die das 20. und beginnende 21. Jahrhundert bestimmt haben und in denen der Verfall der Wertegesellschaft und der Barbarismus der totalen Vergnügungsgesellschaft in immer neuen Anläufen thematisiert und verurteilt worden ist.

In diesem Zusammenhang entfalten Prozessualisierung und Pragmatisierung erst ihre Qualität, sind sie es doch, mit denen fundamentalistischen Haltungen die Basis genommen und eine produktive Konfliktverarbeitung begonnen und umgesetzt werden kann. So gesehen erhalten Systemtheorie und Konstruktivismus, denen als hoch theoretische Ansätze in der gesellschaftlichen Praxis keine Wirkung zugeschrieben wird, mit einem Mal doch weit reichende Bedeutung. Mit ihnen kommt eine Entwicklung zur, wahrscheinlich nur vorläufigen Konsequenz, die spätestens mit dem wahrnehmungstheoretischen Ansatz eines Immanuel Kant begonnen hat. Wahrnehmung ist eine Aktivität des Beobachters und nicht von angenommenen objektiven, externen Verhältnissen abhängig. Die Einsicht in die Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit unter Einschluss dessen, was als authentisch oder fiktiv klassifiziert wird, führt letztlich jedoch nicht zur Aufgabe jedweder handlungsanleitenden Maßstäbe, sondern nur dazu, dass sie mit anderen Quellen verbunden werden. Wenn die Unterscheidung zwischen Fiktion und Fakten selbst nur eine Fiktion ist, da Gesellschaften Fakten nur über Erzählungen unterschiedlicher Qualität operationalisierbar machen, dann bedeutet das nicht, dass damit der Zusammenhalt von Gesellschaften nachhaltig gestört wäre. Wenn überhaupt, dann muss man davon ausgehen, dass die Gefahren für den Bestand von Gesellschaften erhöht werden, da die Bestandssicherung einen erhöhten Aufwand nötig macht. Allerdings geraten die dagegen als stabil eingesetzten Komponenten wie Regeln, göttliche Ordnung, Fakten ihrerseits wieder zu Konstruktionen, deren feste Verankerung in einer als vorhanden angenommenen Wirklichkeit eine einigermaßen gesicherte, wenngleich stillschweigend getroffene Vereinbarung ist.

Schmidts Band nun wendet sich verstärkt den medialen Phänomenen zu, wie sie in den vergangenen Jahren in der Medientheorie diskutiert worden sind. Er beschreibt dabei die Berührungen zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Systemen wie Kunst, Kultur oder Werbung als Systemflirts, bei denen die daraus entstehenden Interferenzen neue Potentiale erschließen lassen. Dass etwa Kunst und Werbung seit mehr als 100 Jahren starke Berührungspunkte hatten, ist dabei nicht einmal neu. Für Schmidt resultiert daraus jedoch vor allem die Erkenntnis, dass die Systeme nicht ineinander übergehen, sondern dass sie - gerade weil sie einander wahrnehmen - sich intern und systemisch weiter entwickeln. Die Kunst vor hundert Jahren hatte nicht nur andere Formen, sondern auch eine andere Qualität, was etwa ihren Einfluss und ihre Einbindung in gesellschaftliche Praxis angeht. Dazu gehört nicht zuletzt der Kunstmarkt, der zwar einerseits die Kunst und Abhängigkeit von Geldströmen bringt, sie andererseits sich aber überhaupt erst in der Form hat entwickeln lassen, wie wir sie heute kennen. Das hat zwar zu einem dauerhaften Krisengerede geführt. Dennoch ist Kunst etwa in den Kommerz nicht aufgegangen, sondern hat sich als System weiter stabilisiert.

Auf dieser Ebene diskutiert Schmidt weitere Themen und Felder der Medientheorie, wobei er gelegentlich einigermaßen überraschende Schwerpunkte setzt. So nimmt er zwar die hohe Attraktivität der Popdiskurse wahr, fokussiert dabei jedoch vor allem auf die Erinnerungstrope, die in ihrem Zusammenhang immer wieder auftaucht. Die Sozialisierungsfunktion eben nicht nur von Pop, sondern auch etwa der Unterhaltungsmedien rückt im Vergleich dazu in den Hintergrund.


Titelbild

Siegfried J. Schmidt: Systemflirts. Ausflüge in die Medienkulturgesellschaft.
Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2008.
230 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783938808412

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