Sublimierungen des Marx’schen Erbes

Eine Richtigstellung aus gegebenem Anlass

Von Axel HonnethRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Honneth

In jenem unglaublichen, noch heute irritierenden Brief, den Max Horkheimer vor fünfzig Jahren an seinen Freund Theodor W. Adorno schrieb, um den jungen Institutsmitarbeiter Jürgen Habermas der theoretischen Unzuverlässigkeit zu überführen, ist wiederholt und mit wachsender Empörung von dessen „blinder“ Bindung an den jungen Karl Marx die Rede: Da habe jemand Zugang zum Institut gefunden, der aus den Erfahrungen der jüngeren Geschichte so wenig gelernt habe, dass er noch immer an die politische Verwirklichung der Philosophie in der Revolution glaube. [1] Inzwischen hat der zeitliche Abstand den Mantel des Vergessens über dieses Dokument eines instinktiven Ressentiments gebreitet und den Skandal des Hinauswurfs des begabtesten Mitarbeiters vollständig in den Hintergrund treten lassen. Max Horkheimer gilt der Theoriegeschichte heute mit Recht als Gründungsvater der Kritischen Theorie, als ihr spriritus rector und Richtungsgeber, während Jürgen Habermas mit demselben Recht als ihr einzig legitimer Nachfolger angesehen wird. Dessen Werk hat sich in den fünfzig Jahren nach der autoritären Intervention Horkheimers sachlich und konzeptionell so ausdifferenziert, dass der marxistische Glutkern des Anfangs darin kaum noch zu erkennen ist. Aus Anlass des 80. Geburtstags des ehemaligen Institutsmitarbeiters soll hier kurz daran erinnert werden, dass dieser Glutkern nie erloschen ist, sondern bis heute einen wesentlichen Motivationsgrund seiner ganzen Theorie bildet.

Zur paradoxen Wirkungsgeschichte der Kritischen Theorie gehört das bis heute weitverbreitete Bild, dass Jürgen Habermas die marxistischen Wurzeln der von ihm fortgesetzten Tradition durch seine kommunikationstheoretische Wende endgültig beseitigt oder, bei entsprechend „radikaler“ Sicht, sogar verraten habe. Zwar straft der Brief Horkheimers diese Lesart überdeutlich Lügen, aber das hat auch nach dessen Veröffentlichung wenig daran ändern können, dass viele in Habermas vor allem den politisch gemäßigten, reformistisch gesonnenen Erben der Frankfurter Schule sehen.

Nichts aber ist falscher, nichts wäre ungerechter gegenüber den faktischen Wirkungszusammenhängen. Horkheimer hat in seiner ressentimentgeladenen Verblendetheit immerhin doch etwas Richtiges geahnt: Wenn es im Institut überhaupt jemanden gab, der das intellektuelle Zeug hatte, die marxistischen Impulse der ursprünglichen Tradition wiederaufzunehmen und fortzusetzen, so war es Jürgen Habermas. Schon kurz nachdem der junge Philosoph sein Studium 1954 in Bonn mit einer Promotion bei Erich Rothacker beendet hatte, begann er sich von seinen Anfängen im Denken Martin Heideggers zu lösen und stärker an den theoretischen Vorstellungen von Marx zu orientieren. Der Aufsatz „Dialektik der Rationalisierung“ [2], auf den sich Horkheimer in seiner Polemik gelegentlich bezieht, stellt den ersten Versuch einer Verschmelzung beider Ansätze dar, in dessen heideggermarxistischem Grundriss schon erste Züge der späteren Gesellschaftstheorie erkennbar sind: In Form einer Entfremdungsdiagnose werden hier nämlich die negativen Effekte veranschaulicht, die der technische Fortschritt in der sozialen Lebenswelt dadurch hervorruft, dass er Einstellungen des Verfügbarmachens befördert, durch die die zuvor noch sinnlich erfahrene Dingwelt allmählich aus dem Erfahrungshorizont des Menschen verschwindet.

Gewiss, noch findet sich in dieser frühen Zeitdiagnose das, was durch die instrumentelle Rationalisierung in der gesellschaftlichen Moderne zerstört wird, im Wesentlichen mit Hilfe der Daseinsanalyse Heideggers bestimmt, noch bleibt die Analyse der problematischen Voraussetzung einer ursprünglichen Welthaftigkeit all unserer Erfahrungen verhaftet: Als der wesentliche Strang in der menschlichen Geschichte wird in einer originellen Verbindung von Gehlen und Marx die methodische Optimierbarkeit des instrumentellen Handelns in der Technik gedacht und als deren zivilisatorische Folge mit Heidegger eine wachsende Weltentfremdung und Entgegenständlichung begriffen. Aber das Bild, das damit von der spezifischen Struktur moderner, hochentwickelter Gesellschaften erzeugt wird, besteht doch maßgeblich schon in der Vorstellung, dass es ein Prozess der nur einseitigen, instrumentellen Rationalisierung ist, der zu sozialen Verwerfungen oder Pathologien in den gegebenen Lebensverhältnissen führt.

Von den Hintergrundprämissen dieses frühen, wegweisenden Aufsatzes rückt Habermas ab, sobald er sich mit der ganzen Wut der Enttäuschung das vollständige Ausmaß der Verstrickung Heideggers in den Nationalsozialismus klargemacht hat [3]; fallengelassen wird jetzt der normative Rahmen der Daseinsanalyse von „Sein und Zeit“, die entstandene Lücke soll auf dem Weg einer verstärkten Auseinandersetzung mit der „philosophischen Diskussion um Marx und den Marxismus“ geschlossen werden. [4] Was aus dieser einschneidenden Phase in der Denkentwicklung von Habermas hervorgeht, sind zwei theoretische Grundannahmen, die von nun an den weiteren Weg der Ausarbeitung seiner Gesellschaftstheorie grundieren werden; sie bilden zusammengenommen einen Orientierungsrahmen, der in Form eines nahezu zum Instinkt gewordenen Richtungssinns alle späteren Schritte der Differenzierung und Erweiterung überstanden hat und der Theorie bis heute als Anhaltspunkt dient. Anders, als Horkheimer es wahrhaben wollte, war es gerade die Aktualisierung von Marx, die dem einzigen Denkansatz in seinem Hause den Weg bahnen sollte, der sich zu einer Erneuerung der alten Ansprüche der Kritischen Theorie aufzuschwingen vermochte.

Die erste Grundannahme, die sich Habermas in seiner Auseinandersetzung mit dem Marx’schen Erbe erarbeitet, besteht in einem materialistischen Bild der menschlichen Geschichte, in dem diese als eine nur durch vernünftig-praktische Anstrengungen zu unterbrechende Kette von undurchschauten Gewalt- und Unterdrückungszusammenhängen gedeutet wird. Schon in seiner Dissertation war der Doktorand am Ende den geschichtsphilosophischen Konsequenzen nachgegangen, die sich für Marx an Friedrich Wilhelm Josef Schellings Idee einer Kontraktion Gottes für sein eigenes, materialistisches Projekt ergeben hatten: Die schlechten, korrumpierten Zustände, als die die sozialen Verhältnisse der Gegenwart im Sinne eines säkulär interpretierten Sündenfalls verstanden werden können, sollen durch eine Emanzipation überwunden werden, in der die Menschheit sich als eine Vereinigung assoziierter Produzenten von der Gewalt der Materie befreit. Es ist gewiss nicht so, dass Habermas dieses geschichtsphilosophische Schema einer revolutionären Aufhebung der sich in der menschlichen Geschichte naturhaft reproduzierenden Gewalt jemals unverändert in den Rahmen seiner eigenen Theorie übernommen hätte. Aber die damit verknüpfte Vorstellung, nach der wir uns der Schlechtigkeit oder Pathologie unserer gegenwärtigen Zustände allein im Lichte einer reflexiven Rückbesinnung auf eine bislang undurchschaute Geschichte selbstbewirkter Verstrickungen versichern können, formt doch sein Denken so stark, dass er sie in ermäßigter Gestalt durch alle Veränderungen hindurch beibehält. Soviel an geschichtsphilosophischem Rest, wie in Marx‘ Idee der Notwendigkeit einer vernünftig-praktischen Aufhebung der undurchschaut fortwirkenden Fremdherrschaft in unserer zivilisatorischen Geschichte enthalten ist, lässt sich auch in Habermas‘ reifer Theorie der Vernunft wiederfinden; denn diese soll sich ja weiterhin als das kritische Organ der Artikulation eines Vernunftanspruchs verstehen können, der unter der überformenden Kruste einer in seiner naturhaften Wirkung undurchschauten Macht instrumenteller Rationalität in den kommunikativen Strukturen der Lebenswelt angelegt ist.

Die zweite Grundannahme, die sich Habermas in seiner Auseinandersetzung mit dem Marx’schen Erbe erarbeitet und nicht mehr preisgeben wird, besteht in der Wiederaufnahme des theoretischen Reimes, den sich Marx auf den sozialen Charakter des uns undurchschaut beherrschenden Gewaltzusammenhangs gemacht hatte. Schon in seiner ersten Beschäftigung mit Marx eignet sich der junge Philosoph trotz aller vorsichtig angedeuteten Kritik dessen Vorstellung an, dass die sozialen Pathologien moderner Gesellschaften mit den Folgen zu tun haben müssen, die der marktwirtschaftliche Zwang zur Steigerung von ökonomischer Rendite und Profit bewirkt: Was in dem genannten Aufsatz zur „Dialektik der Rationalisierung“ bereits als Dominanz von instrumentellen Einstellungen bezeichnet und später mit der Formel von der „Kolonialisierung der Lebenswelt“ gefasst wird, soll durch ein Einsickern ökonomischer Nutzenkalküle in alle anderen Handlungssphären hinein ausgelöst worden sein.

So sehr Habermas in der weiteren Ausarbeitung seiner Theorie die für ihn ursprünglich konstitutiven Denktraditionen der philosophischen Anthropologie, der Geschichtsphilosophie und des Marxismus später auch empirisch umformulieren und sprachanalytisch präzisieren wird: Von der marxistischen These einer Verselbstständigung ökonomischer Handlungsorientierungen wird er nicht mehr lassen; sie bestimmt, wenn auch unauffällig, so doch in steter Wiederkehr, seine Gesellschaftstheorie bis heute. Deren Produktionsweise ist zwar über die Jahre hinweg die einer ständigen Einarbeitung neuer Theorieansätze, einer ruhelosen Ausdifferenzierung von ursprünglichen Intuitionen und dementsprechend einer stetig wachsenden Komplexität des Gesamtprogramms gewesen; aber was wäre dieses geradezu systemhafte Theorieganze heute ohne die moralische Antriebskraft, die aus den ersten Jahren einer Aneignung des Marx’schen Werkes stammt? Weiterhin und unverändert ist Habermas in seinen theoretischen Bemühungen von der Aufgabe beseelt, jene Verselbstständigung der kapitalistischen Verwertungszwänge abzuwehren, die wie undurchschaute Naturgewalten die kommunikativen Kräfte unserer Lebenswelt bedrohen.

Es ist, als habe Horkheimer damals geahnt, dass eine solche Verlebendigung des Marx’schen Denkens durch einen jungen Mitarbeiter dazu angetan sein könnte, den bloß noch rhetorischen, praktisch folgenlosen Charakter des eigenen Herbeizitierens von Marx offensichtlich werden zu lassen. Wie zum Selbstschutz, um eine derartige Bloßstellung zu verhindern, hat er daher in seinem Brief Adorno gebeten, ja gedrängt, den gerade dazugewonnenen Zögling wieder fallen zu lassen. Der Karriere und Wirkung des theoretischen Denkens von Habermas hat diese Intervention keinen Abbruch tun können; er hat, nachdem er im Institut für Sozialforschung auf keine Zukunft mehr hoffen konnte, in dem wahrhaften Marxisten Wolfgang Abendroth schon bald einen neuen Mentor gefunden. [5] Aber Gründe der theoriegeschichtlichen Gerechtigkeit gebieten es vielleicht doch, aus Anlas des 80. Geburtstags des einstigen Mitarbeiters daran zu erinnern, dass die Dinge sich anders verhielten, als es so manche Kolportage noch heute gern wahrhaben würde.

[1] Max Horkheimer an Theodor W. Adorno, Brief vom 27.09.1958, in: Theodor W. Adorno / Max Horkheimer, Briefwechsel, Band IV (1950 – 1969), hrsg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz, Frankfurt/M. 2006, S. 508-521.

[2] Jürgen Habermas, Die Dialektik der Rationalisierung, in: Merkur, VIII. Jg., 1954, S.701ff.

[3] Ders., Mit Heidegger gegen Heidegger denken. Zur Veröffentlichung von Vorlesungen aus dem Jahr 1935, in: FAZ, 25. Juli 1953; wiederabgedruckt in: ders., Philosophisch-politische Profile, Frankfurt/M. 1981, S. 65-71.

[4] Vgl. Jürgen Habermas, Zwischen Philosophie und Wissenschaft: Marxismus als Kritik, in: ders., Theorie und Praxis, a.a.O., S. 162-214; ders., Zur philosophischen Diskussion um Marx und den Marxismus, ebd., S. 261-335.

[5] Jürgen Habermas, Der Herrmann Heller der frühen Bundesrepublik. Wolfgang Abendroth zum 100. Geburtstag, in: ders., Ach, Europa, Frankfurt/M. 2008, S. 11-14.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Aufsatz erschien zuerst in  der Monatszeitschrift Blätter für deutsche und internationale Politik (6/2009, S. 53-56), deren Juni-Heft Jürgen Habermas, dem Mitherausgeber dieser Zeitschrift gewidmet ist. Wir danken dem Autor und dem Zeitschriftenverlag für die Genehmigung zur Publikation.