Gedächtnis und Epos

In seiner monumentalen Studie „Kulturelles Gedächtnis als epische Reflexion“ erörtert Michael Paaß das erinnerungskulturelle Wirkungspotenzial des Grass’schen Werkes

Von Daniele VecchiatoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniele Vecchiato

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit Anbruch der 1990er-Jahre kennt die Literaturwissenschaft eine synergetische und ertragreiche – wenn auch mitunter riskante – Vernetzung mit unterschiedlichen kulturwissenschaftlichen Bereichen, so dass man mit Wilhelm Vosskamp von einer echten „kulturalistische[n] Wende“ in der Wahl der Themenschwerpunkte bei den jüngeren Generationen von Philologen sprechen kann. Termini wie gender und queer, New Historicism, biopouvoir oder Postcolonialism sind heute an der Tagesordnung für Literaturwissenschaftler, die neue Forschungsperspektiven für die Analyse und Deutung literarischer Texte anhand der Instrumente anderer Disziplinen eröffnen möchten.

Wegen der wachsenden Bedeutung einer ununterbrochenen Auseinandersetzung mit der jüngsten Geschichte Deutschlands ist besonders in diesem Land der Themenkomplex „Erinnerung und Gedächtnis“ ins Zentrum kulturhistorischer Untersuchungen gerückt worden. In seiner Epoche machenden Schrift „Das kulturelle Gedächtnis“ konstatierte der Ägyptologe Jan Assmann 1992, „daß sich um den Begriff der Erinnerung ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften aufbaut, das die verschiedenen kulturellen Phänomene und Felder – Kunst und Literatur, Politik und Gesellschaft, Religion und Recht – in neuen Zusammenhängen sehen läßt“. Wie prophetisch diese Aussage war, bezeugt inzwischen die überraschende Vielfalt an interdisziplinären Beiträgen über die Gedächtnisforschung, die Ansätze und Methoden der cultural studies auch für die Literaturwissenschaft produktiv gemacht haben.

Einen solchen Weg geht auch Michael Paaß in seiner Dissertationsschrift zu Günter Grass, die den vielsagenden Titel „Kulturelles Gedächtnis als epische Reflexion“ trägt. Der Autor erforscht in fünf ausführlichen und theoretisch fundierten Kapiteln, wie Grass das Thema „Gedächtnis“ als dichterische Herausforderung angeht und in einigen seiner Prosawerke zur Bewahrung von Erinnerung gestaltet. Die Literatur wird also in ihrer mnemonischen Funktion als „das kollektive Gedächtnis der Menschen“ (Siegfried Lenz) betrachtet: Vor dem Hintergrund des von Assmann theorisierten kulturwissenschaftlichen Gedächtnisparadigmas wird in einem barocken, manchmal viel zu akademischen Stil gezeigt, durch welche strukturellen Erzählstrategien und formalen Mechanismen die traumatischen Ereignisse des Zweiten Weltkrieges im Grass’schen Werk narrativ aufgearbeitet werden.

Die Auswahl der untersuchten Texte ermöglicht es dem Autor, eine facettenreiche und werkübergreifende Analyse des literarischen Oeuvres des ebenso geliebten wie umstrittenen Nobelpreisträgers anzubieten: Mit „Hundejahre“ (1963) wird Grass’ Frühwerk exemplarisch fokussiert, mit „Der Butt“ (1977) und „Die Rättin“ (1986) wird die Aufmerksamkeit auf die mittlere Schaffensperiode gelenkt, während mit „Im Krebsgang“ (2002) und „Beim Häuten der Zwiebel“ (2006) das Spätwerk in Betracht gezogen wird.

Paaß’ anspruchsvolle Analyse, die sich wegen des häufigen Rekurses auf hypotaktische Strukturen manchmal anstregend liest, beginnt mit einem soliden einführenden Teil über die theoretischen und poetischen Ansätze der Arbeit. Besondere Bedeutung wird der Definition und Erklärung von Fachtermini beigemessen, die oft in Opposition zueinander stehen, jedoch begrifflich schwer zu trennen sind. In Bezug auf die grundlegenden Studien von Jan und Aleida Assmann wird auf die Unterscheidung zwischen „kulturellem“ und „kommunikativem Gedächtnis“, auf ihre jeweiligen Modi, sowie auf die Rollen von „Speicher-“ und „Funktionsgedächtnis“ eingegangen. Indem er die Schriften der Assmanns mit den Untersuchungen von Astrid Erll erhellend integriert, erklärt der Autor, was einen „kulturellen Text“ (Speichermedium) von einem „kollektiven Text“ (Zirkulationsmedium) differenziert, was man unter „cue-Funktion“ versteht und welche Darstellungsverfahren die „Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses“ ausmachen. Nach der erschöpfenden Beschreibung der technischen Ausrüstung, mit der Paaß seine abenteuerliche hermeneutische Reise durch Grass’ Romane unternimmt, wird knapp auf poetologische Texte des Schriftstellers hingewiesen – unter anderen die Frankfurter Poetik-Vorlesung „Schreiben nach Auschwitz“ (1989/90) und ein Gespräch mit Manfred Durzak – in denen die Rolle der Literatur nach dem Holocaust beleuchtet und, in Anlehnung an Alfred Döblin und im Gegensatz zu Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Geschichte als eine Kette von chaotischen Zufällen geschildert wird.

Paaß widmet sich dann in seiner detaillierten Analyse des Romans „Hundejahre“ dem dort inszenierten Erzählerkollektiv, das diverse Blickwinkel auf die NS-Zeit ermöglicht, wodurch die traditionelle auktoriale Erzählerinstanz in den Hintergrund rückt. Durch die pluralische Perspektive dreier verschiedener Erinnerungsträger (Täter, Opfer, Zeuge) wird dem Leser die Aufgabe zugewiesen, selbst Zusammenhänge aufzudecken sowie Figuren und Ereignisse kritisch zu hinterfragen. Außerdem evoziert Grass durch den fiktiven Rahmen des Festschriftprojekts die konkrete Arbeit an einem kulturellen Gedächtnismedium, das die Geschichte auch für die Nachgeborenen erinnerbar machen soll. Die Fragmentierung und die Heterogenität, die sich im Erzählbau wie in der Beschreibung der Protagonisten feststellen lassen und zum Teil durch eine collagenhafte Vernetzung verschiedener Leitmotive kompensiert werden, spiegelt nach Paaß die komplexe Struktur des Erinnerns wieder, die durch Brüche und Nahtstellen charakterisiert ist.

Schlüsselwörter des Kapitels über den Roman „Der Butt“ sind die alle Zeitebenen zusammenführende Dimension der „Vergegenkunft“ und der Gedächtnisort Danzig, in dem die memorierten Geschichten der elf Köchinnen-Figuren in verschiedenen historischen Epochen angesiedelt sind. Dem Roman verleiht dieser fiktive Erzählrahmen die Gestalt eines „Geschichtsmärchens“, in dem Zeit- und Raumkonstrukte verdichtet werden und das Gedächtnis in seinem lebendigen Wandlungsprozess durch eine Kette mündlicher Tradierung dargestellt wird. Paaß zufolge vermag Grass in „Der Butt“ die Überlagerung von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis aufzuzeigen, die biografische Vergangenheit der Figuren mit in Medien fixierten und überlieferten Erinnerungen zu verflechten und dadurch die Alltagsgeschichte im Licht der Weltgeschichte durchscheinen zu lassen.

Den visionären Roman „Die Rättin“ betrachtet Paaß wegen der metapoetischen, selbstreflexiven Verfahren seines komplexen Aufbaus als experimentelles, spätmodernes Werk, in dem die zeitliche Trias von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in Zweifel gezogen wird und die pessimistische Grundangst vor einer Leere der Zukunft artikuliert wird. Die (post-)apokalyptische Handlung und das Motiv des „Abschied-Nehmens“ interpretiert der Literaturwissenschaftler als Darstellungen vom Ende des kulturellen Gedächtnisses: Die relikthaft gewordenen Traditionsgüter können als kulturelle Gedächtnisträger nur noch musealisiert werden. Viel Raum gewährt Paaß dem im Roman hervorgerufenen Wechselverhältnis von Literatur und neuen Medien sowie der Aktualität mancher Themen wie der ökologischen Katastrophe, die den heutigen Leser zur reflektierenden Debatte auffordern und dadurch den Roman zu einem „Zirkulationsmedium“ funktionalisieren.

Im letzten Kapitel seiner Arbeit wendet sich Paaß der Novelle „Im Krebsgang“ zu, die die tragische Geschichte des „Kraft durch Freude“-Schiffes Wilhelm Gustloff thematisiert, sowie dem autobiografischen Werk „Beim Häuten der Zwiebel“, das wegen des späten Eingeständnisses von Grass, er habe mit siebzehn für kurze Zeit der Waffen-SS-Division „Frundsberg“ angehört, zu einem (nicht nur literarischen) Skandal in den Feuilletons der ganzen Welt führte. Durch die Analyse dieser Erinnerungsbücher, die das kollektive Gedächtnis (das deutsche Flüchtlingsleid) beziehungsweise das individuelle, persönliche Erinnern explizit in den Vordergrund rücken, wird gezeigt, wie der Schriftsteller immer wieder auf die gedächtniskulturelle Thematik zurückkommt und sich dabei sowohl etablierter Schreibtechniken – etwa des multiperspektivischen Erzählens – wie mutiger Experimente bedient. Als besonders interessant erweist sich der deutliche Rekurs, den Grass selbst in diesen zwei Büchern auf sein Frühwerk nimmt, besonders auf die Danziger Trilogie: Wiederholt werden Figuren wie die pikareske Tulla, die bereits in „Hundejahre“ zu finden war, oder symbolische Motive wie die Zwiebeln, die im „Blechtrommel“-Roman als Tränen spendendes Hilfsmittel im Kontext der später von den Geschwistern Mitscherlich postulierten „Unfähigkeit zu trauern“ erwähnt wurden.

„Wer sich der eignen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muß sich verhalten wie ein Mann, der gräbt“, schrieb Walter Benjamin. Man könnte ohne Zögern behaupten, dass Günter Grass in seinem narrativen Werk mehr als jeder andere deutsche Schriftsteller der Nachkriegszeit eine massive Grabungsarbeit geleistet hat, die zugleich auch als eine rigorose Reflexion über die Gegenwart zu verstehen ist. Mit seiner Studie „Kulturelles Gedächtnis als epische Reflexion“ legt Michael Paaß eine ergiebige Arbeit vor, die einige voluminöse Prosawerke des Archäologen Grass untersucht und weiteren Forschungen im Licht des kulturwissenschaftlichen Spektrums von Erinnerung und Gedächtnis wichtige Impulse gibt.

Titelbild

Michael Paaß: Kulturelles Gedächtnis als epische Reflexion. Zum Werk Günter Grass.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2009.
524 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783895287176

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