Ein Fall der zweiten Generation

Lizzie Doron erzählt in „Es war einmal eine Familie“ vom Leben nach der Shoah

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sieben Tage, so schreibt es die jüdische Tradition vor, dauert bei einem Todesfall die erste intensive Trauerzeit. Sie beginnt, sobald die Beerdigung stattgefunden hat und ist von Eltern, Geschwistern, Kindern und Ehepartnern einzuhalten. Während der „Schiwa“ (hebräisch für „sieben“) bleibt die Familie zu Hause, gedenkt des Toten und trauert. Es wird nicht gearbeitet, keine neuen Kleider werden angezogen und auch keine Schuhe getragen. Man lässt sich nicht die Haare schneiden und rasiert sich auch nicht. Verwandte, Freunde und Bekannte kommen zu Besuch, bringen Essen mit und spenden Trost. Die Schiwa ermöglicht es den Hinterbliebenen, ihren Schmerz auszudrücken und mit ihrem Kummer fertig zu werden. Sie gibt der Gemeinde Raum, praktische und emotionale Unterstützung zu leisten und den Trauernden zu helfen, „ins Leben zurückzukehren“.

Elisabeth, die Ich-Erzählerin in Lizzie Dorons Buch „Hajta po pa’am mischpacha“ (Jerusalem 1992) hält sich als säkular erzogene Jüdin nicht allzu streng an die vorgeschriebenen Riten der Schiwa für ihre verstorbene Mutter Helena. In diesem, vor kurzem unter dem Titel „Es war einmal eine Familie“ erstmals auch auf Deutsch erschienenen Text verarbeitet die 1953 in Tel Aviv geborene Schriftstellerin die Trauerzeit für ihre eigene, 1990 gestorbene Mutter. Thematisch reiht sich das Buch damit ein in die Gruppe ihrer bisher veröffentlichten Arbeiten wie „Lama lo bat lifne ha-milchama?“ (1998) / „Warum bist du nicht vor dem Krieg gekommen?“ (2004) und den beiden Romanen „Jamim schel scheket“ (2003) / „Ruhige Zeiten“ (2005) und „Hatchala schel maschehu jafe“ (2007) / „Der Anfang von etwas Schönem“ (2007).

Der Tod von Helena ist der Auslöser für Elisabeths intensive Beschäftigung mit der eigenen Kindheit und Jugend in der jiddisch sprechenden Gemeinde von Tel Aviv. Dort, wo sich nach dem Zweiten Weltkrieg Überlebende der Shoah ansiedeln, wächst die Ich-Erzählerin bei ihrer allein erziehenden Mutter auf: „Anfang der neunziger Jahre, nachdem meine Mutter zum zweiten Mal gestorben war, versammelten sich jene, die im Lande hier noch übriggeblieben waren, um ihr die letzte Ehre zu erweisen, und erweckten diejenigen wieder zum Leben, die nicht mehr waren. Und dieses Land, das mit seinen Toten schon seit vielen Jahren dahinstirbt, ist noch einmal auferstanden: Nur sieben Tage lang war es noch einmal da, das unbekannte Land. Das Land, das mir Heimat und Familie war.“

Allein, ohne ihren Ehemann und die Kinder kehrt Elisabeth nach langer Abwesenheit für die Schiwa wieder in die leer stehende Wohnung ihrer Mutter zurück, mit der sie viele Erinnerungen verbinden. In den kommenden sieben Tagen – jeder der sieben Tage stellt jeweils einen Abschnitt in „Es war einmal eine Familie“ dar – erhält sie nacheinander Besuch von Bekannten und Nachbarn von Helena. Es kommt dabei aber auch zu einem Wiedersehen mit ihren eigenen früheren Klassenkameraden und Freunden. Die Gespräche, die die Ich-Erzählerin mit ihren Gästen führt, lassen lange vergessene und verdrängte Erlebnisse in ihr wieder aufsteigen. Elisabeth erinnert sich an das schwierige Zusammenleben mit ihrer Mutter, die sich selbst als „Veteranin des Todes“ gefühlt hat. Erst im Rückblick wird der Tochter bewusst, dass jene den Holocaust nie hat wirklich verarbeiten können. Als beide eines Tages ein Sparkonto für Elisabeths Universitätsstudium eröffnen wollen, antwortet ihre Mutter auf die Frage des Beamten, wo sie wohne: „,Auschwitz, Baracke 2, gegenüber dem Krematorium. […], Manchmal bin ich in Krakau, manchmal in Plaszów, manchmal in Buchenwald, aber am Ende, Herr Bankangestellter, bin ich immer in Auschwitz.‘“

Es ist die Erfahrung der Shoah, die nicht nur Elisabeth und Helena, sondern beinahe sämtliche Überlebende und ihre nach Kriegsende geborenen Kinder voneinander trennt. Die Verfolgung, Misshandlung und Ermordung hat die späteren Einwanderer ängstlich und (über-)vorsichtig werden lassen. Viele sind – auch und vor allem wegen früherer Todesfälle unter ihren Kindern im Zweiten Weltkrieg – stets um das Wohlbefinden ihrer in der neuen, doch fremden Umgebung zur Welt gekommenen Kinder besorgt.

Helena schreibt Briefe an den Schuldirektor ihrer Tochter, in denen sie unter anderem begründet, weshalb sie Elisabeth nicht erlauben möchte, gemeinsam mit ihrer Klasse das Grab des frühen Kämpfers Joseph Trumpeldor zu besuchen: „Zu meinem Bedauern habe ich Tausende von Menschen gesehen, die ihre Ehre verloren, ihre Familie, ihr Geld und ihren Besitz, sie hatten keine Kleider und nichts zu essen, sie froren, es ging ihnen schlecht, und sie hatten Schmerzen, aber keiner von ihnen dachte, es sei gut zu sterben. Alle hofften, am Leben zu bleiben. Ich muß meine Tochter, die nach dem schrecklichen Krieg auf die Welt kam, lehren, das Leben zu lieben. Sie muß wissen, das, wenn sie, was Gott verhüten möge, einmal kämpfen muß, sie dann kämpfen wird, um zu leben, und nicht, weil es gut ist, wie Sie und Trumpeldor glauben.“ Elisabeth wird dieses Schreiben nie abgeben.

Die Lehre, von der Helena spricht, bleibt Utopie – deshalb, weil es ihr nicht gelingt, mit der Tochter über ihre Erlebnisse in Polen während der Shoah zu sprechen. Auch die meisten anderen Überlebenden in „Es war einmal eine Familie“ schweigen über das Erlittene. Dabei können oder wollen sie nicht vergessen. Sie finden sich in ihrem Leben nicht (mehr) zurecht – auch nicht in ihrer neuen Heimat. Innerlich zerbrochen und größtenteils traumatisiert, führen sie ein „Schattendasein“. Chajale, eine frühere Bekannte, die mit ihrer Familie erst später, in der Amtszeit von Władysław Gomułka aus Polen gekommen ist, spricht darüber während ihres Besuchs bei Elisabeth: „Unsere Eltern sind mehrmals ums Leben gekommen. Meine Eltern, weißt du, sind das erste Mal im Krieg ums Leben gekommen, ein zweites Mal, als sie hier einwanderten, ein drittes Mal, als Judale fiel, und ein viertes und letztes Mal, als sie starben.“

Judale, zwei Jahre älter als seine Schwester Chajale, gehört wie diese und Elisabeth zu einer Generation, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren ist und die eine gänzlich andere Sozialisation erfährt als ihre Eltern, die den Nahen Osten als Einwanderer kennenlernen, denen „nichts geblieben [ist] als eine fremde Sprache, seltsame Bräuche, Erinnerungen und Alpträume“. Aus Überzeugung, hauptsächlich aber, um sich gegen die Dominanz der verstummten Eltern zu behaupten, melden sich viele der jungen Leute nach dem obligatorischen Militärdienst freiwillig zu Eliteeinheiten. Diese kommen in den Kriegen gegen die arabischen Nachbarstaaten oft zum Einsatz. Insbesondere im Jom-Kippur-Krieg 1973 verlieren viele von Elisabeths Freunden und Bekannten ihr Leben. Für die Eltern, die gehofft hatten, mit der Immigration ein neues Leben ohne Krieg führen zu können, bedeutet das Sterben der Kinder einen doppelten Verlust. Helena äußert darüber einmal traurig: „,Die Deutschen haben wir hier besiegt, nicht mit Kanonen, nicht mit Panzern und nicht mit Flugzeugen. Wir haben sie besiegt, indem wir Familien gegründet und Kinder auf die Welt gebracht haben. Und jetzt, da man uns unsere Kinder tötet, verlieren wir auch den Krieg von damals.‘“

Am Ende der Schiwa, als sich Elisabeth an ihren Besuch im Krankenhaus erinnert, in das ihre Mutter eingeliefert wurde, gelangt sie zu der Erkenntnis, dass sie deshalb so gut wie nichts über Helena weiß, weil sie viele Jahre kein wirkliches Interesses für ihre Mutter gehabt hat. Erst ihr Tod treibt die Tochter dazu, über beider Leben zu reflektieren. Dem Schweigen der Elterngeneration setzen Elisabeth und ihre gleichaltrigen Freunde und Bekannte schließlich das „Darüber-Reden“ entgegen: „Chajale sprach jetzt viel und schnell. Das stille Mädchen, das jahrelang in der Schule neben mir gesessen hatte, deren Eltern unsere Lehrerin Pola zu sich gerufen und gefragt hatte: Warum spricht Ihre Tochter nicht?, sprach jetzt ohne Unterlaß. Chajale schien meine Gedanken zu erraten. ,Es scheint, daß ich Tante Zila ähnlich geworden bin‘, sagte sie, ,Von ihr habe ich gelernt, daß man alles aussprechen muß.‘“

Trotz der schmerzhaften Eingeständnisse und der vielen überwältigenden Erinnerungen überwiegt bei Elisabeth dennoch die Freude – Freude darüber, dass sie doch nicht allein aufgewachsen ist: Das Viertel und die Menschen, die dort Tür an Tür mit ihr und Helena gelebt haben, sind ein integraler Bestandteil ihrer Kindheit und Jugend. Sie alle zusammen bilden eine große Familie. Sonia, eine Bekannte ihrer Mutter, schließlich findet zum Abschied die passenden, traurig-schönen Worte: „,Die Schiwa war wirklich sehr gelungen, nur schade, daß Helena nicht dabei war.‘“

Titelbild

Lizzie Doron: Es war einmal eine Familie.
Übersetzt aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler.
Jüdischer Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
142 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-13: 9783633542352

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