Das „Handy“ des Dandys

Cyclomanie: Elmar Schenkel schreibt über das Fahrrad und die Literatur

Von Frauke SchlieckauRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frauke Schlieckau

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1978 brachte die Band Queen einen Song heraus, der jenem Gebrauchsgegenstand huldigte, den wir heute, ohne ihm noch irgendwelche Aufmerksamkeit zu schenken, selbstverständlich nutzen, der aber, unterzieht man ihn einer genaueren Betrachtung, eindeutig zu den erfolgreichsten Erfindungen der Menschheit gehört: das Fahrrad.

Überall wird geradelt, von Sylt bis Passau, von Australien bis China, vom Hoch- über das Einrad bis zum Tandem. Kein Wunder also, dass das Fortbewegungsmittel, wenn auch meist unbeachtet, Eingang in Kunst, Musik und Film fand: Das schnelle Fahrrad des Briefträgers in Jaques Tatis ‚Jour de fete‘, das gestohlene Rad in den ‚Fahrraddieben‘, das abgenudelte des Don Camillo. Vor allem Surrealisten, Dadaisten, Science-Fiction-Autoren, aber auch Filmregisseure und Künstler inszenierten die absurden Dimensionen des Fahrrads. Sein Erfolgsgeheimnis: Jeder kann es lernen und jeder kann es sich leisten. Zur Fortbewegung braucht es nicht viel mehr, als ein wenig Muskelkraft. Außerdem lässt sich ein gebrauchter Drahtesel heute bereits für wenige Euro erstehen. Und nicht zuletzt ist Fahrrad fahren einfach unglaublich effizient. Zumindst bergab der Schwerelosigkeit nahe kommend, lässt sich mit einem sehr geringen Aufwand ein relativ hohes Gewicht in einer verhältnismäßig kurzen Zeitspanne von A nach B bewegen. Kein Wunder also, dass Freddy Mercury bereits in seiner Ode über das Fahrrad fahren feststellte: „Bicycle Races Are Coming Your Way / So Forget All Your Duties Oh Yeah! / Fat Bottomed Girls They’ll Be Riding Today / So Look Out For Those Beauties Oh Yeah ”.

Ohne Zweifel, „das Fahrrad ist eine der genialsten Erfindungen dieses Planeten. Es wurde in den Zeiten der ersten Industrialisierung entwickelt und hat doch etwas sehr Einfaches und Nicht-Maschinelles zur Grundlage. Es ist primitiv, verglichen mit all der Apparatur, die im Laufe des 19. Jahrhunderts die Erde und Menschen zu verändern begann. In einer Zeit nach der elektronischen Sintflut mutet es vorsintflutlich an, es ist eine gleitende Paradoxie.“ Einige Exemplare dieses Fortbewegungsmittels gelangten zu Ruhm, allen voran das weiße Fahrrad, das schließlich sogar John Lennon und Yoko Ono bei ihrem berühmten „Bed In“ Ende der Sechziger Jahre gemeinsam mit der Öffentlichkeit zu sich ins Schlafzimmer holten.

Was aber ist es nun genau, neben seiner Effizienz, dass uns dieses Fortbewegungsmittel so unentbehrlich, Münster zu einer begeisterten Fahrradstadt und die Tour de France zu einem medialen Großereignis gemacht hat? Bereits Chesterton versuchte sich 1910 an einer Erklärung für das Phänomen und fand eine scheinbar plausible Antwort auf seine Frage: „Ein Rad ist ein großes Paradox, ein Teil geht beständig vorwärts, der andere ebenso rückwärts. Das aber ähnelt in höchstem Maße der Verfassung jeder Menschenseele und jedem politischen Zustand.“

Kein Wunder also, dass das Fahrrad durchaus auch eine Rolle in der Literatur spielt. Eine bisher wenig beachtete Beziehung, der Elmar Schenkels in seinem Essay „Cyclomanie“ auf den Grund zu gehen versucht. „Er erhellt die seltsame Beziehung zwischen dem energetisch besten Fahrzeug des Planeten und der Welt der Wörter, bewegt sich abwechselnd zwischen Radeln und Dichten, zwischen Radstürzen und poetischen Aufschwüngen.“

Viele große Autoren, von Mark Twain und Émile Zola bis hin zu Samuel Beckett – so Elmar Schenkels These – wurden vom Radfahren inspiriert. „Frauen entdeckten durch das Rad die Möglichkeit der Emanzipation und schrieben darüber, wie etwa Simone de Beauvoir.“ Die Brecht-Geliebte Ruth Barlach, die in den Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts nicht nur mit dem Fahrrad von Dänemark nach Paris fuhr, sondern ihr Gefährt auch mit einem Kosenamen versah, bleibt hingegen leider unerwähnt.

Elmar Schenkel hat sich für seinen schmalen Band ein interessantes Thema ausgesucht, allerdings gelingt es ihm nicht immer, die verschiedenen Entwicklungen stringent aufzuzeigen, ohne sich zu verfransen. Gut gelungen ist sein historischer Abriss über die Entwicklung des Fahrrads, durch den Elmar Schenkel die literarisch-sportliche Beziehung ergänzt. Ein sinnvolles Unterfangen, schließlich fällt es uns heute schwer, uns bewusst zu machen, dass es Zeiten gab, in denen das Fahrrad durchaus eine seltsam anmutende und ungewohnte Apparatur war. „Mark Twain [zum Beispiel], der wie Tolstoi, Henry Adams oder Ganghofer das Radeln in fortgeschrittenem Alter erlernte, sah sich als einen Don Quijote, der mit einem altmodischen Körperverhalten auf die neuen Anforderungen der Maschine reagierte.“

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren sogar Fahrradschulen in Mode: Der Mann von Welt nahm Unterrichtsstunden, um sich das neue Fortbewegungsmittel Untertan zu machen. Das Fahrrad wurde zum modischen Accessoire, eine trendige Spielerei, der fröhlichen Radelei frönten auch die literarischen Vertreter der Wiener Moderne, allen voran Arthur Schnitzler. Kurzum, das Fahrrad war so etwas wie das „Handy“ des Dandys.

Ein schöner Vergleich, aber auf die literarischen Textstellen, in denen das Fahrrad vorkommt, hätte Elmar Schenkel trotzdem noch etwas genauer eingehen können. Stattdessen geht er der bis heute ungeklärten Frage nach, wer denn das Zweirad nun eigentlich erfunden hat. Die erste dokumentarisch belegte Weltumrundung auf einem Fahrrad, lässt sich hingegen scheinbar einwandfrei zuordnen. „Der Amerikaner Thomas Stevens fuhr in den 1880er Jahren als erster Mensch auf einem Hochrad durch die Vereinigten Staaten und schließlich um die Welt, zumindest war er der erste der über solch eine Tat ein Buch schrieb.“

Alles in allem ist „Cyclomanie“ eine „kleine Geschichte der Literatur und Kultur“. Die zahlreichen Beispiele die Elmar Schenkel gibt, sind eine Stärke des Essays, seine Schwäche der immer wieder und etwas bemühte Vergleich zwischen dem Fahrradfahren und der Gattung Literatur. Verbindungen zwischen beidem sind auch so genug vorhanden. Auf Fragestellungen wie „Was ist ein Fahrrad was ein Roman?“ hätte daher verzichtet werden können, ohne der ungewöhnlichen Thematik zu schaden. Eins steht aber nach der Lektüre von Cyclomanie ohne Zweifel fest: „Das Fahrrad ist, wenn nicht Kunst, so doch ein kleines Kunststück.“

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Elmar Schenkel: Cyclomanie. Das Fahrrad und die Literatur.
Edition Klaus Isele, Eggingen 2008.
173 Seiten, 13,00 EUR.
ISBN-13: 9783861424482

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