Nähe auf Distanz

Per Petterson lässt seine Figuren in „Ich verfluche den Fluss der Zeit“ scheitern

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im November 1989 fällt die Mauer – und mit ihr so manches, was bis dahin als unverrückbar gegolten hat. Arvids Mutter erfährt, dass sie an Krebs erkrankt ist. Was andere gänzlich lähmen würde, führt bei der kranken Frau dazu, dass sie Entscheidungen trifft, ohne die Familienangehörigen beizuziehen. Sie tut, was sie will. Sie, die seit vielen Jahren mit Mann und Söhnen in Norwegen lebt, will noch einmal ein paar Tage in ihrer Heimat, im Ferienhaus in Jütland verbringen. Sie möchte dort allein sein tun, niemand soll sie begleiten, doch Arvid reist ihr Hals über Kopf nach.

Er, Arvid befindet sich seinerseits in einer Lebenskrise: seine Ehe ist gescheitert, er steht vor der Scheidung, und damit tut er sich sehr schwer. Die Reise zur Mutter wird somit einerseits zur Flucht vor dem, was ihn zu Hause erwartet, andererseits ist es aber vielleicht die letzte Gelegenheit, den Zugang zur Mutter wieder zu finden. Die Nähe, die sie zwar zueinander verspüren, bleibt versteckt, Arvid ist sie oft unangenehm – und für die Mutter ist dieser Sohn schon immer das Sorgenkind gewesen.

Arvid hat sich früh von seinen Eltern abgesetzt, vor allem aber von den Träumen, die er an ihrer Stelle hätte verwirklichen sollen. So sollte der intelligente Junge eine höhere Schule besuchen können, um nicht wie sie ewig Arbeiter zu bleiben. Doch er entscheidet sich, auf das Stipendium und die Hochschule zu verzichten und Schichtarbeiter zu werden. Die Eltern wollen nicht verstehen, was das nun soll, warum sich gerade ihr Sohn völlig der Partei verschreibt und deren Parolen folgt, um damit einen möglichen sozialen Aufstieg einfach so auszuschlagen. Vielleicht wäre es noch anders gewesen, wenn dieser Sohn die praktischen Dinge im Leben hätte bewältigen können. Doch ihm misslingt alles, er ist den meisten Situationen nicht gewachsen. Ein Versager wider Willen, könnte man sagen. Kein gutes Parteimitglied, völlig überfordert am Sterbebett seines jüngeren Bruders, am fünfzigsten Geburtstag seiner Mutter so betrunken, dass er die vorbereitete Rede nicht mehr halten kann – und als Ehemann und Vater scheitert er ebenfalls.

Arvids Entscheidung, alleine der Mutter nachzureisen, mag als Verzweiflungs- oder Kurzschlusshandlung gesehen werden. So klar dürfte es auch für ihn nicht gewesen sein. Die Mutter ihrerseits nimmt seine Anwesenheit mit der ihr eigenen Gelassenheit hin und lässt sich von ihren Plänen nicht abhalten. Gerade diese Haltung ermöglicht es Arvid, Rückschau auf sein Leben zu halten, etwas, das man eher bei seiner Mutter erwarten würde. Doch während Arvid sich erinnert, was in seinem Leben für ihn entscheidend gewesen ist, lebt die Mutter im Jetzt, und vor allem nimmt sie den Sohn an, wie er ist, ohne Vorbehalte. Arvid, gleichzeitig der kleine Junge und der erwachsene Familienvater, findet so bei seiner Mutter, die auch jetzt, als Krebskranke, außergewöhnlich stark ist, einen Halt, und es wird ihm möglich, endlich den Weg zu gehen, der für ihn der richtige sein könnte.

Petterson gelingt es, die schwierige Beziehung zwischen Mutter und Sohn gleichzeitig völlig nüchtern und voller Emotionen zu zeichnen. Dabei geht es weder darum, aufzuzeigen, was Mutter beziehungsweise Sohn alles falsch gemacht oder verpasst haben, vielmehr erlaubt ihnen der – nicht geplante – gemeinsame Aufenthalt, Momente gemeinsam zu erleben, die auf Vertrauen basieren. Der Sohn muss seine Unabhängigkeit von der Mutter nicht länger beweisen und kann ihr so ganz nahe sein, die Mutter hat keine Schuldgefühle, in Gegenwart des Sohnes mit einem Mann, der nicht ihr Ehemann und nicht der Vater Arvids ist, unterwegs zu sein. So entsteht Nähe, obwohl eine gewisse Distanz bleibt. Denn für die Mutter wird das Leben in absehbarer Zeit zu Ende gehen, während der Sohn in einen weiteren, einen neuen Lebensabschnitt eintritt. Hier gibt es keine Gemeinsamkeit. Dass nicht darüber hinweggegangen wird, macht die dichte Atmosphäre dieses Romans aus, der, bei aller Spröde, doch von einer außergewöhnlichen Menschlichkeit getragen wird.

Titelbild

Per Petterson: Ich verfluche den Fluss der Zeit. Roman.
Übersetzt aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger.
Carl Hanser Verlag, München 2009.
240 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783446234208

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