Von der Hitze des Blutes
Mit „Leidenschaft“ erschien jüngst ein weiterer verschollen geglaubter Roman Irène Némirovskys
Von Kerstin Henseke
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAls 2004 bei Denoël in Paris die „Suite française“ erschien, feierte das Land nicht nur eine literarische Sensation, sondern auch ein spätes Wiedersehen. 60 Jahre lang hatte das Manuskript Irène Némirovskys unentdeckt in einem Koffer mit Briefen, Tagebüchern, Arbeitsunterlagen und persönlichen Dokumenten überdauert. Die Schriftstellerin ukrainisch-jüdischer Herkunft, die in den 1930er-Jahren zu den erfolgreichen Autoren Frankreichs zählte, hatte den Koffer im Sommer 1942 für ihre beiden kleinen Töchter gepackt, der eigenen bevorstehenden Deportation illusionslos ins Auge sehend. Am 17. August 1942 wurde sie in Auschwitz ermordet, ihr Mann Michel Epstein, ein weißrussisch-jüdischer Bankier, im November. Die Mädchen überlebten dank ihrer Pflegemutter in Verstecken. Die damals 14-jährige Denise Epstein war es, die das in winziger Schrift abgefasste, unvollendete opus magnum ihrer Mutter sechs Jahrzehnte später entzifferte. Irène Némirovsky beschreibt darin den Einfall der Deutschen in Paris 1940. Dabei stehen nicht die Besatzer im Mittelpunkt, sondern die französische Gesellschaft, von der sich die vor kurzem noch umjubelte, nun verbotene Schriftstellerin bereits verraten und verlassen fühlt. Hellsichtig, mitleidlos und messerscharf beobachtet Némirovsky ihre Protagonisten auf der Flucht, wobei diese bis auf wenige Ausnahmen nicht nur ihr Hab und Gut, sondern auch Zivilisation und Moral in der Hauptstadt zurücklassen. Nahezu erschütternd sind die tiefe Ruhe, die Gelassenheit, die glasklare Analyse, die die Erzählung tragen. Als hätte Irène Némirovsky Jahre Zeit gehabt, das historische Geschehen gründlich zu reflektieren. Doch es ist die Gegenwart, die sie festhält und im selben Atemzug literarisch-künstlerisch verewigt, ohne vordergründig zu bewerten und selbst den positiven Helden der Geschichte distanziert gegenüberstehend.
„Man muß etwas Großes schaffen und sich nicht länger fragen, wozu. Sich keine Illusionen machen: Es ist kein Text für heute. Also braucht man sich nicht zurückzuhalten, sondern muss mit aller Kraft dreinschlagen, wo man will“, notierte Irène Némirovsky im April 1942 in ihr Tagebuch. An den Programmleiter ihres Verlegers Albin Michel, der sie in ihrem Versteck auf dem Lande finanziell unterstützte, schrieb sie am 11. Juli 1942: „Es wird ein postumes Werk werden.“ Zwei Tage später wurde sie von der französischen Gendarmerie verhaftet und kurz darauf deportiert.
In Deutschland erwarb der Münchner Knaus-Verlag die Lizenz für die „Suite française“. Nicht zuletzt deshalb, weil er versicherte, nach der Herausgabe des Bestsellers weitere Werke der hierzulande unbekannten Schriftstellerin zu publizieren. Seitdem bringt der Verlag einen Roman nach dem anderen heraus: Zuerst „Die Hunde und die Wölfe“, dann „Jesabel“ und „Feuer im Herbst“.
Mit der Erstübertragung ins Deutsche betraute der Knaus-Verlag die Frankfurter Übersetzerin Eva Moldenhauer. Der schnörkellose, klare, mitunter auch lakonisch-nonchalante Erzählstil Némirovskys kommt der präzisen, sprachschönen und vor allem schlanken Diktion ihrer Übersetzerin entgegen. Diese versteht es, selbst das zwischen den Zeilen Schwingende äquivalent und geschmeidig in die andere Sprache zu übertragen und dabei ganz dicht am Original zu bleiben. Wer Moldenhauer liest, kann darauf vertrauen, auch den Autor wirklich zu kennen.
Nach „Feuer im Herbst“ (2008), der lange als letzter vollendeter Roman und als Vorstufe zur „Suite française“ gegolten hatte, erschien nun mit „Leidenschaft“ („Chaleur du sang“) ein weiteres erst jetzt entdecktes Werk, das 2007 als Erstausgabe bei Denoël Paris publiziert wurde. Vermutlich der wirklich letzte vollendete Roman und – wie in der Verlagsmitteilung zu lesen ist – als Fortsetzung der „Suite“ anzusehen.
Die Geschichte beginnt an einem Herbstabend in der tiefsten französischen Provinz, zwischen den beiden Weltkriegen. „Dieses Land, im Herzen Frankreichs, ist wild und reich zugleich. Jeder lebt für sich auf seinem Gut, mißtraut dem Nachbarn, bringt seinen Weizen ein, zählt sein Geld und kümmert sich nicht um den Rest“, lässt Némirovsky ihren Ich-Erzähler in einem der typischen inneren Monologe erzählen. Dieser – Vetter Silvio genannt – sitzt mit seiner Cousine Hélène und ihrem Ehemann François, deren beiden Söhnen und der kurz vor der Heirat stehenden Tochter Colette in trauter Runde am Kamin. Mit dabei ist auch Colettes Bräutigam, der junge Mühlenbesitzer Jean Dorin, ein strebsamer, ehrlicher, unauffälliger Junge. Über gepflügten Äckern geht ein flammender Sonnenuntergang hernieder, in der Luft liegt ein fruchtiger Duft. Doch über dem in bester naturalistischer Tradition geschilderten beschaulichen Szenario ziehen sich langsam, aber stetig dunkle Wolken zusammen. Gespiegelt in Andeutungen, gehässigem Klatsch, verschlossenen Mienen, allzu naivem Geplauder oder zu idyllischen Arrangements. „Ich möchte so gerne, daß wir so zusammenleben wie du mit Papa! Ich bin sicher, daß ihr euch nie gestritten habt“, bittet Colette ihre Mutter um eine Erzählung aus ihrer Jugend.
Némirovsky führt den Leser zielgerichtet, doch zunächst auf langen Pfaden ins Zentrum der Handlung. Irgendwann beginnen die leicht antiquiert wirkende Sprache der Dialoge und die Langatmigkeit der minutiösen Milieubeschreibungen gar zu irritieren. Doch „so wie sich das Auge an die Dunkelheit gewöhnt, so erkennt der Leser allmählich die im Dunkel des Berichts kauernden Tiere, die am Ende losspringen und dabei die hübsche ländliche Szenerie zerfetzen werden“, schreiben Némirovskys Biografen Olivier Philipponat und Patrick Lienhardt im Nachwort.
Die Katastrophe entlädt sich, als Jean Dorin eines Nachts bei der Rückkehr aus der Stadt ins wild schäumende Mühlenfließ stürzt und ertrinkt. Schon bald ahnt der Leser, dass die junge Witwe mehr niederschlägt als nur die Trauer – das schlechte Gewissen. Und als nach und nach die Umstände von Jeans Tod ans Licht kommen, kommt die verdrängte Lebenslüge von Colettes Mutter Hélène ans Tageslicht, die einst wie nun ihre Tochter einer Leidenschaft nachgab, die für einen kurzen Moment der Erfüllung bleibendes Unglück zeitigte. Alles unter der bigotten Moral Verdrängte und Vergessene setzt sich als Verhaltensmuster innerhalb der Familie fort. Die Alten erkennen sich in den Jungen nicht wieder, schütteln den Kopf angesichts des Feuers, das sie einst selbst verzehrte und vom Pfade abbrachte. Und in der Familie, scheinbarer Hort der Liebe und des Vertrauens, öffnet sich der größte vorstellbare Abgrund überhaupt. Dass hier von einer Liebe erzählt wird, die „alle Regeln bricht und die Moral verhöhnt, um einmal wirklich zu leben“, wie der Klappentext verspricht, bleibt allerdings eine These. Mutter und Tochter fühlen sich nicht nur lebenslang für ihre „Leidenschaften“ schuldig und bereuen diese zutiefst. Aus der Handlung geht auch keineswegs hervor, dass diese jeweils kurzen Affären das wirkliche Leben ausgemacht hätten, die zu erleben alles spätere Leid rechtfertigten. Némirovsky geht es wohl eher um die Hitze des Blutes, die auch das sorgsam Gehegte mit einem Schlag zunichte machen kann, irrational und nur wenig beeinflussbar. Auch hier kommt die Schriftstellerin ohne jede Wertung aus und erzählt konsequent aus der persönlichen Perspektive ihrer Helden und damit direkt aus der ganzen Gesellschaft.
„Leidenschaft“ ist als vielschichtige Erzählung mit zahlreichen zeitlichen Rückblenden angelegt, die Stück für Stück die wahre Geschichte und auch die letztlich überraschende Rolle des vermeintlich distanziert-beobachtenden Ich-Erzählers offenbaren. Akribisch-detaillierte Beschreibungen wechseln mit kinematografisch schnellen Schnitten, die das Geschehen wie einen Film ablaufen lassen und voranbringen. Obgleich der enthüllende Showdown etwas lang gerät und das Ende seltsam abgebrochen und unfertig wirkt, beweist Némirovsky mit diesem Romane einmal mehr ihren Sinn für Dramatik. Um die Familie mit ihrem Schreiben ernähren zu können, veröffentlichte sie einen Großteil ihrer Werke als Fortsetzungsromane in Zeitschriften, sie wusste also genau, an welcher Stelle man abbrechen musste.
Ob „Leidenschaft“ wirklich als Fortsetzung der „Suite française“ anzusehen ist, bleibt fraglich. Nicht nur, weil Irène Némirovsky die Idee bereits 1938 entwickelte. Unzweifelhaft jedoch ist, dass erst der Aufenthalt in der französischen Provinz 1940/41, wo sie auch die Arbeit an der „Suite“ beginnt, ihr den geeigneten Handlungsrahmen bietet. Darin ähnelt „Leidenschaft“ dem zweiten Teil der „Suite“. Sie verfremdet auch hier weder die Ortsnamen noch den des Hotels, in dem sie sich mit ihrer Familie nach dem Weggang aus Paris einquartiert und wo sie in aller Ruhe die Menschen beobachtet. Der Ich-Erzähler weist an mehreren Stellen autobiografische Züge auf. „Sie werden die Gesellschaft nicht vermissen, wenn Sie sie verlassen haben, oder vielmehr, wenn sie von ihr verlassen worden sind, wie es bei mir der Fall war…“ entgegnet Silvio etwa auf die Frage nach seiner Zurückgezogenheit.
Als sie dies schrieb, durfte sie – Star der Pariser literarischen Salons – ihrer jüdischen Herkunft wegen schon nicht mehr publizieren. Das Land, dessen Bürgerin Némirovsky so gern geworden wäre, verweigerte ihr die Staatsbürgerschaft und ließ sie am Ende ganz fallen.
Im kommenden Frühjahr erscheinen die ebenfalls von Moldenhauer ins Deutsche übertragene Némirovsky-Biografie von Olivier Philipponat und Patrick Lienhardt sowie ein Band mit Erzählungen. Ursprünglich wollte der Knaus-Verlag damit die Herausgabe des Romanwerks beschließen. Vor wenigen Tagen nun entschloss man sich zur Fortsetzung. Im Gespräch sind bislang „Les biens de ce monde“ und der weitgehend autobiografische Roman „Le vin de solitude“ – Eine wirklich gute Nachricht.
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