Liberté Égalité Fraternité
Fast eine Theorie. „loslabern“ von Rainald Goetz
Von Alexander Weil
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Es war der Herbst der stürzenden Kurse an der Börse, und nur eine Aktie war für einen blitzhaft kurzen Augenblick exorbitant in die Höhe geschossen, die von VW, die Kernschmelze des globalen Finanzssystems fühlte sich gut an, die Katastrophennachrichten aus der Welt der zusammenbrechenden Banken hatten einen extremen Gegenwärtigkeitsflash, der um jede von ihnen herum im Erstmoment ihres Erscheinens grellstens und eisig kalt leuchtete, man war schon ganz süchtig danach, dass irgendein nächstes Institut kurz vor dem finalen Exitus, dem Supercrash, dem totalen Endzusammenbruch stand, dann aber gerade noch, da es, wie es jetzt dauernd so soziologenhaft hieß, systemrelevant war, vom Staat mit soundsovielen Hunderten von Millionen, bald Milliarden Dollars und Euro GERETTET werden musste und auch gerettet wurde, gerettet werden konnte, dass das überhaupt ging, alles war ja auch noch hochspekulativ, die verrückten Derivate, die Zertifikate, die giftigen Papiere, die ganzen Begrifflichkeiten der nie gelesenen Sonderseiten hinter Wirtschaft und Finanzen hatten einen märchenhaft theoretizistischen Zauberklang, ein völlig neues Stück Welt ging da plötzlich auf mit aller Macht, sein Titel war ja auch nicht schlecht: Das Geld. Und dann auch noch: Jörg Haider.“
„loslabern“ von Rainald Goetz ist ein Buch in zehn Kapiteln, in drei Teilen; überschrieben: „Reise“, „Herbstempfang 2008“, „Der Jüngling“. Es ist in einer ruhelosen Sprache geschrieben, die auf- und abbrechend, steigend und fallend Klänge erzeugt, die an die dissonante Beinahe-Musik erinnern, die aus Orchestergräben aufsteigt bevor ein Dirigent das Podest betritt und Musiker sich um einen Kammerton versammeln: einzelne Takte werden angespielt, Läufe hoch und runter geblasen und gegriffen, fremde Melodien kommen hereingeschneit, ein Auflockern, konzentriert, oder beiläufig, Stimmen, Gelächter, Pulte- und Stühlerücken, die Erwartungen des Publikums werden geschürt, ohne dass Aufmerksamkeit gefordert wäre. Es ist diese Art gelöster Aufmerksamkeit, die aus dem Buch erklingt, weil seine Sprache, ihre Rhythmen und Melodien einen Erwartungsklang erzeugen, der Sätze, Gedanken, Begriffe, Empfindungen nicht einfach auf den Punkt bringt, sondern vorantreibt.
Goetz schreibt viel, sehr viel, gewissermaßen ständig und nichts und niemand, heißt es, sei vor seinem literarischen Zugriff sicher; vor allem nicht Personen des öffentlichen Lebens, bevorzugt solche aus dem Literatur- und Medienbetrieb, aber auch nicht Nachbarn, Kassiererinnen, Freunde, Trink- und protokollarische Rituale, Zeitschriften, Bücher und so weiter. Goetz beobachtet und protokolliert und setzt in „loslabern“, wie bereits in „Abfall für Alle“ und „KLAGE“, die Vielstimmigkeit der Wirklichkeit mit ihren Sprachmelodien, unsinnigen oder sinnstiftenden Anspielungen in eine Sprache „der Dringlichkeit und Fraglichkeit“.
Im Untertitel nennt er das Buch „Bericht Herbst 2008“ und spielt damit auf die Geschlossenheit nicht nur eines Zeitraums an, sondern auch auf die eines Kompendiums. Denn „loslabern“ berichtet nicht nur über Ereignisse des Herbstes 2008, es ist auch ein Lehrbuch literarischen Schreibens geworden, dessen Sprache „der Dringlichkeit und Fraglichkeit“ ausblendet, was an den Objekten des Interesses in flauem Licht erscheinen könnte. Deshalb ist es auch, wie der Autor auf der ersten Seite ankündigt, ein Traktat geworden, eine Streit- und Flugschrift: ungeschützt in seiner Kritik, schnell und beweglich.
Gleich zu Beginn und am Ende heißt es, loslabern sei ein „ethischer Akt“, es gehe um „Aufwallung von Direktheit und quasi sinnfreier Intentionalität“, um eine „Moral des Schreibens“ und darum, „das einfach so dahergelaberte Schreiben, als höchste Textethik darzustellen, weil ja in ihm als vorher schon Gelöstes alles Entscheidente darin und enthalten und ausgesprochen sei…“.
Oder anders gesagt; es geht um die Freiheit der Rede, um eine Art Freiheit, bei der sich das Interesse an einem bestimmten Gegenstand ungehemmt auf einen anderen richtet, falls es, aus welchen Gründen auch immer, blockiert wird. Es ist ein unfertiges Sprechen, das dabei entsteht, nicht einmal unbedingt ein Verfertigen der Gedanken beim Reden, eher ein träumerisches, rauschhaftes Sprechen, manchmal von Rückfällen in beinahe kindliche Plapperlust und aufgeschnappten Fehlleistungen auf den rechten Weg gebracht, ein Sprechen, bei dem es nicht einmal ein Gegenüber braucht, das wirklich zuhört, wo es genügt, dass, wer spricht, etwas bei sich wähnt, das hören kann.
Anders als in den vorangegangenen Internettagebüchern „Abfall für Alle“ und „KLAGE“, wo das Flugschrifthafte des Blogs, das Beiläufige des täglichen einloggens, beim Umblättern der später gebundenen Buchseiten den Charakter belesener Beschäftigung annahm, gibt es in der Sprache von „loslabern“ nicht mehr den Druck des täglichen Publizierens, stattdessen überführt Rainald Goetz seinen Gedanken der Freiheit der Rede in die Praxis des Schreibens.
„Es war nicht ausgeschlossen, dass die Theorie des LOSLABERNS richtig war, und sei es, dachte ich, nur wegen der albernen Schönheit des Wortes selbst, aber wenn, dann doch bestimmt nicht allgemein, sondern nur für mich, dass es sich also nicht um eine richtige Theorie handeln konnte, weil ich, das heißt hier: mein Geist, die intellektuelle Apparatur, die ich war, zur Ausarbeitung und Darlegung einer solchen Theorie gar nicht befähigt war. Ich sah, dass die Frau, die neben dem Canetti herangetreten war, erfreut davon, dass hier in unserer Gruppe, türnah positioniert, geraucht wurde, sich eine Zigarette von jemandem hatte geben lassen und jetzt, herumblickend, nach Feuer Ausschau gehalten hatte, kramte in meiner Hosentasche, hielt ihr mein Feuerzeug hin, sie zog an ihrer Zigarette, atmete den Rauch ein und bedankte sich, ja, so war es vorgesehen, Feuer, Rauchen, Trinken, so war es gedacht.“
Sowenig „loslabern“ einen willkürlichen Unterschied zwischen Wichtigem und Unwichtigem macht, macht es einen zwischen dummen, klugen, aufmerksamen, gedankenlosen Lesern und besteht stattdessen auf der Autonomie im Verhältnis von Erzähler und Leser und auf ihrer Gleichheit „im Sozialen des mitmenschlichen Kontakts“.
Die Schilderung eines Empfanges in Anwesenheit der Bundeskanzlerin mit seinen hinzutretenden und wegtretenden, anwesenden und abwesenden Protagonisten, gerät Goetz zu einem Protokoll wahnhaften Umherblickens und richtungslosen Umherirrens, zu einem Sprach-, Gedanken- und Wortgedränge, das sich immer wieder in ungehaltenen Anwürfen entlädt, als verursache er permanent Lärm in dieser Gesellschaft, dabei steht er vor allem rum, beobachtet, schreibt und teilt mit. Auch später im Buch, wenn er wegen eines zerschossenen Beines an ein Lazarettbett des Jahres 1918 gefesselt ist, lässt er sich „den Tod nicht einreden“, sondern notiert munter weiter und liest und macht sich Gedanken über die Daheim- und im Feld-Gebliebenen, über den Kaiser und über das Vaterland. Und immer wieder, Spezialität des Dichters, Registerarien im lyrischen Fach:
7 letzte Lätzchen
Bauch: tot
Seele: tot
Hirn: tot
wann?
Knie: dumm
Haar: weh
Nagel: krumm
1 alter Kamm
*
„[…], aber zur Bewertung von Literatur muss man keine Ahnung haben von gar nichts, es braucht nichts, nur Sprachgefühl und Menschenkenntnis, daraus wird Literaturkritik genauso wie Literatur gemacht, alles andere ist sekundär, und Tonnen von Spezialwissen können herrlich sein und Ödnis pur, es gibt keine mechanistische Rettung aus der nie vorher klärbaren Frage des Gelingens oder Misslingens, das muss man eben ausprobieren, und sowenig man sich selber sicher sein kann, dass einem ein Gelingen gelingt oder gelungen ist, sowenig man es sich von Freunden und Bekannten, die man ängstlich befragt, bestätigen lassen kann, dass etwas gelungen ist, so wenig kann man irgendjemand anderem, der ein Misslingen konstatiert, die Kritikberechtigung unter Hinweis auf fehlendes Fachwissen absprechen.“
Dieser Gedanke über die Gleichheit findet sich gegen Ende des Buches in einem furiosen 17-seitigen Abschnitt, der mit der Schilderung eines künstlerischen Abendessens beginnt („Prost ist das schönste Wort auf Erden, ich weiß nicht, was es heißt, aber es bewirkt Gutes unter den Menschen, die sich ihm anvertrauen.“), sich in eine Schilderung des Selbstmordes der Verlegerin Heidi Paris wendet, in eine Verneigung vor dem Tod, vor dem sterbenden menschlichen Körper und umschlägt in ein beharrliches Schienbeintreten gegen die Macht des Großen, des physisch Großen, Großgewachsenen, um zurückzukehren zum Abendessen, wo im Autor jetzt die Hoffnung keimt, es möge sich ihm eines Tages, plötzlich, eine nichtgegenständliche Schriftstellerei auftun, die den Gemälden des von der Tischgesellschaft hier gefeierten Freundes und Malers Albert Oehlen entspricht. „Und alle am Tisch hatten auf all das, halleluja, hoch die Tassen, noch einmal angestoßen und einen getrunken, Prost.“
„loslabern“ hebt mit der Geste himmelwärts geworfener Arme an, mit der Geste des Entzückens über einen Einfall: „LOSLABERN: Traktat, Traktat über den Tod, über Wahn, Sex und Text, und, erheitert von diesem soeben durch ihn hindurchgefahrenen Expressivitätsereignis: Bericht!, der Herbst 2008!…“, aber davor noch und ganz zum Schluss heißt es: „to chant and enchant“, singen und beglücken. Brüderlichkeit.
|
||